Die Freilernerzeitschrift gibt es schon seit über 20 Jahren. Sie ist als Plattform für Familien, Initiativen und Vereine, die sich mit selbstbestimmten und selbstorganisierten Bildungsformen beschäftigen, entstanden. Es sind viele Familien dabei, die die Schulpflicht verweigern oder im Ausland schulfrei leben, sowie auch freie aktive und demokratische Schulen und junge Erwachsene, die sich alternative Bildungsprojekte organisieren. Wir bieten Raum für eine breite Vielfalt und stehen für Pluralität, Offenheit und Toleranz, doch wir stellen uns deutlich gegen jegliche diskriminierende, gewaltverherrlichende und nationalistische Ansätze und Ideologien.
Wie sieht die Situation für Freilerner außerhalb von Deutschland aus? Welche Möglichkeiten und Gesetze gibt es in den verschiedenen Ländern und wie werden diese praktisch gehandhabt und umgesetzt? Gibt es auch Länder, in denen es staatliche Unterstützung für Freilerner gibt? Und wie sieht es mit lokalen Angeboten und den Möglichkeiten zur Vernetzung aus?
Kommunikation ist die Basis der Verständigung untereinander. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten sich auszutauschen: über gesprochene oder geschriebene Worte, über Gesten, Blicke, Körpersprache… Was trägt dazu bei, um sich gegenseitig wirklich zu verstehen? Warum entstehen Missverständnisse und
Konflikte und wie können wir sie lösen? Wie authentisch kann Kommunikation in den digitalen Medien sein? Wie läuft die Kommunikation mit unserer nicht-menschlichen Umwelt ab?
Wie lernen junge Menschen zu kommunizieren und wie können wir sie dabei bestmöglichst begleiten?
Es gibt so viele Möglichkeiten sich mit dem Thema Wasser und
Land auseinander zu setzen, denn es berührt unzählige Aspekte: ökologische, soziale, geologische, biologische u.v.m. Die Vielfalt von Leben im Wasser und an Land entdecken – sehen, erfahren, forschen, sich Wissen aneignen oder kreativ ausdrücken mit Sprache, Musik, künstlerischem Gestalten. Die Bedeutung von Wasser und Land für unser Leben erkennen – sich mit Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit beschäftigen. Es geht um das Lernen in Zusammenhängen, fächerübergreifend, ganzheitlich
und mit allen Sinnen. Texte, Bilder, Fotos, Spielideen, Buchempfehlungen u.a. zum Thema.
Wie können Strukturen und Entscheidungsprozesse gestaltet sein, damit sowohl gemeinschaftliches Zusammenleben und Partizipation als auch ein möglichst selbstbestimmtes Leben möglich sind? Welchen Rahmen braucht die freie Entfaltung von Menschen in Familien, in Gruppen, in Schulen, in der Gesellschaft? Was ist nötig für ein gutes Leben für alle? Wo gibt es
Widersprüche, durch was wird es möglicherweise gefährdet und wie kann es geschützt werden? Was schafft Freiräume und Möglichkeiten für alle? Welche positiven Beispiele gibt es?
Was verstehst du unter Kreativität? Was ist Kunst? Wo fängt Kunst an und wie wird Kreativität hier eingeflochten? Ist Kunst immer kreativ und ist Kreativität immer Kunst? Wo findet Kreativität statt? Und wann? Woraus, also aus welcher Quelle, schöpfe ich? Und wie? Passiert dies zu bestimmten Zeiten? An bestimmten Orten? Mit bestimmten Menschen? Unter bestimmten Einflüssen? Helfen Rituale, Zeremonien oder Elemente mir dort hin, wo für mich der kreative Fluss beginnt aus mir heraus zu strömen? Welche Freiheiten brauche ich für die Kreativität? Welche Freiheiten erhalte ich durch das kreativsein? Wofür ist Kreativität gut? Wo ist Kreativität nützlich und sinnvoll – auch gerade für junge Menschen, deren Entwicklung und Zukunft? Ist nicht jeder Mensch, jedes Menschenkind, ein*e Schöpfer*in, ein*e Kreator*in?
Wie geht es weiter, wenn junge Menschen älter werden und auch beruflich selbständig sein wollen? Welche Möglichkeiten gibt es, Schulabschlüsse zu machen, und was ist auch ohne einen
Abschluss möglich? Welche Wege gehen Menschen, die ohne Schule aufgewachsen sind? Wie entwickeln sich Berufswege im Allgemeinen? Auch immer mehr Menschen mit Schulabschlüssen
gehen eigene Wege, bei denen ihre Abschlüsse kaum mehr eine Rolle spielen. Wie wird die Zukunft der Berufswahl und -gestaltung aussehen? Wo finden wir Inspiration, Ermutigung oder auch Beratung, um den eigenen Weg zu finden?
Freiheit ist ein hohes Gut und wir wollen frei sein und selbstbestimmt und wünschen das auch für unsere Kinder. Doch was heißt eigentlich frei sein? Was damit verbunden wird, ist sehr unterschiedlich und des einen Freiheit ist möglicherweise der anderen Unfreiheit. Wo endet Freiheit, wo sind ihre Grenzen – persönliche oder auch gesellschaftliche? Grenzen können auch Erleichterung bedeuten und Schutz und Orientierung bieten. Dementsprechend müssen Freiheit und Grenzen ausgehandelt werden, verschieben sich auch mit der Zeit oder in unterschiedlichen Situationen. Und es gibt auch bewusste Grenzüberschreitungen, wenn wir zivilen Ungehorsam leisten, indem wir z.B. unsere Kinder nicht zur Schule zwingen.
Wie könnte eine Bildungslandschaft aussehen, die den individuellen Bedürfnissen junger Menschen gerecht wird? Welche Vielfalt und Wahlmöglichkeiten wären wünschenswert? Was sind die verschiedenen Beweggründe fürs Freilernen? Was braucht es für die Familien und gesellschaftlich, um freilernende Menschen bestmöglich zu unterstützen? Inwieweit ist Bildung zuhause ein Privileg? Wie ist es, wenn man dazu gezwungen wird, weil die Schulen zu sind oder es keine passende vor Ort gibt? Was für Angebote könnte es für Kinder geben, die sich ohne Schule bilden wollen, aber deren Eltern das nicht begleiten können/wollen? Welche unterschiedlichen Formen von Bildung zuhause kennt ihr? Wie lässt sich die Umsetzung von häuslichem Unterricht individuell gestalten? Welche Unterschiede oder Gemeinsamkeiten gibt es zwischen Freilernen und Homeschooling? Welche Rolle spielen digitale Bildungsangebote? Was wünscht ihr euch für eine Zukunft der Bildungsvielfalt?
Was macht es aus, dass wir uns in der Welt daheim und geborgen fühlen? Was brauchen unsere Kinder, damit sie sich sicher und handlungsfähig fühlen, damit sie in der Welt zurechtkommen? Was brauchen wir als Eltern, für uns und um unseren Kindern dieses Gefühl vermitteln zu können? Welche Bedürfnisse haben unsere Kinder, welche haben wir selber? Bringen spezielle Lebensumstände wie z.B. ADHS, Legasthenie, Autismus, Trisomie 21, Gehörlosigkeit, Sehbeeinträchtigungen etc. besondere Bedürfnisse und Erfordernisse mit sich? Wie kann gewährleistet werden, dass diese erfüllt sind? Wie können wir unsere Kinder unterstützen, damit sie im Leben klarkommen? Oder was können wir in der Welt verändern, damit sich möglichst alle daheim, geborgen und sicher fühlen können?
2001 erschien die Ausgabe 0 des Rundbriefs der Initiative für selbstbestimmtes Lernen. Dies war der Vorläufer der heutigen Freilernerzeitschrift und wurde damals noch kopiert herausgegeben, teils von mit der Schreibmaschine getippten und teils von handschriftlichen Vorlagen. Seit 20 Jahren gibt es also inzwischen die Freilernerzeitschrift mit all ihren Wandlungen. Neben alten Texten aus den ersten Ausgaben berichten in der »Jubiläumsausgabe« Menschen von damals, wie alles anfing mit der Freilerner-Bewegung, aber auch wie es dann weiter ging und was sie heute machen. Manche der Eltern von damals sind heute Großeltern und die Kinder und Jugendlichen von damals sind natürlich alle inzwischen erwachsen. Ein spannender Rückblick und vielleicht auch Anregung und Ermutigung für heute.
Insekten und Spinnen sind so vielfältig wie erstaunlich. Es gibt so viel über sie zu erfahren und erst recht sehr viel, was wir noch nicht wissen und erforscht haben. Sie sind fast überall und können deshalb auch leicht beobachtet werden. Trotzdem sind sie bedroht und viele von ihnen sind sogar schon ausgestorben. Sie nehmen eine wichtige Stellung in Ökosystemen ein und ohne sie können wir nicht überleben. Es gibt also viele Gründe, warum es sich lohnt, sich mit ihnen zu befassen. Es ist spannend und faszinierend, was sie alles können, wie sie leben, wie sie aussehen. Sie kommen in uralten Geschichten vor, retten oder bedrohen unsere Lebensmittel, sind unabdingbar für fruchtbare Böden und wenn wir uns mit ihnen beschäftigen, kommen wir von einem zum nächsten Thema. So wird durch dieses Schwerpunktthema Insekten und Spinnen auch anschaulich, wie Freilernen funktionieren kann, wie über die Beschäftigung mit einem konkreten Thema vielfältiges Wissen und auch Fertigkeiten angeeignet werden können, weiter zu anderen Themen führen und es ermöglicht wird, komplexe Zusammenhänge zu erfassen. Biologie, Ökologie, Chemie und Mathematik spielen eine Rolle und wer sich mit Lichtverschmutzung beschäftigt, kommt vielleicht weiter zur Astronomie. Das Heft regt dazu an, zu beobachten, zu forschen und neue Fragen zu stellen.
Die Balance zwischen Individualität und Gemeinschaftlichkeit ist wohl eine der größten Herausforderungen im Leben. Wie kann es gelingen, sein eigenes Ding zu machen und trotzdem
ein Teil des großen Ganzen zu sein? Wie kann das Leben auf gesellschaftlicher Ebene geregelt und gestaltet werden, ohne die Freiheit der Einzelnen zu sehr einzuschränken? Was ist wichtig,
bei der Gründung von Gemeinschaften und um diese langfristig aufrecht zu erhalten? Wie kann die Gemeinschaft dafür sorgen, dass jede*r einzelne sein volles Potenzial entfalten kann? Und
wie kann jede*r einzelne dafür sorgen, dass das Gemeinwohl nicht zu kurz kommt?
Wie sieht die Freilerner-Bewegung im deutschsprachigen Raum momentan aus? Welche Gruppen gibt es und wo finden Treffen statt? Welche Bücher, Internetseiten und andere Informationsquellen über das Freilernen stehen Interessierten zur Verfügung? Wo findet man Unterstützung bei rechtlichen Auseinandersetzungen, beim alltäglichen Lernen und für Schulabschlüsse? Wie ist die Freilerner-Szene in den letzten Jahrzehnten entstanden und wohin bewegt sie sich aktuell? Welche Entwicklungen gibt es politisch? Welche verschiedenen Initiativen sind momentan aktiv, was sind ihre Ziele und was wird konkret unternommen, um das Thema politisch und gesellschaftlich voran zu bringen?
Immer wieder gibt es Bestrebungen, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Fast alle Bundesländer haben die Kinderrechte bereits in die Landesverfassung aufgenommen. Auch innerhalb der Freilernerszene wird darüber immer wieder sehr kontrovers diskutiert. Werden die jungen Menschen mit diesen Regelungen als eigenständige Subjekte gestärkt oder wird damit die Unterscheidung zwischen “Kindern” und anderen Menschen weiter zementiert? Wie sieht es bei den verschiedenen Vorschlägen mit dem Verhältnis von Kindeswohl und Kindeswillen aus? Und was bedeutet das für unsere Argumentationen für die Selbstbestimmungsrechte junger Menschen?
Wie können wir wirklich wir selber sein und unsere Kinder darin begleiten, sie selber zu sein? Was braucht es, um sich selbst zu finden, als Mann, als Frau, als Mensch, auch jenseits von festgelegten Rollenbildern? Ist es ein Unterschied Vater oder Mutter eines Sohnes oder einer Tochter zu sein? Was sind unsere Werte und wie leben wir sie? Wo gibt es Platz für Kampf und Wildheit ohne zerstörerisch zu werden? Wie finden auch Jungs und Männer Zugang zu ihren Gefühlen, trauen sich darüber zu reden, trauen sich zu weinen? Was bedeutet es Mann zu sein in einer Welt die mit männlichen Prinzipien sich selbst zerstört und in der behütende und fürsorgliche Arbeiten als unmännlich zählen? Welche Rolle nehme ich ein, wenn ich mich weder dem Weiblichen noch dem Männlichen zugehörig fühle? Braucht es überhaupt Kategorien? Was bedeutet es, erwachsen zu werden in einer Welt, die in Jugendlichen zum größten Teil unreife Menschen sieht, denen kaum etwas zugetraut wird, und denen der Rückhalt durch Riten und Mentoren fehlt? Welchen Einfluss haben die in den Medien vermittelten Rollenbilder auf die Selbstwahrnehmung unserer Kinder und wie können wir damit umgehen?
Zu spielen liegt in der Natur des Menschen und Kinder sind darin die großen Meister. Egal ob Phantasiespiele, Ballspiele, Rollenspiele, Brettspiele, Bewegungsspiele oder auch Computerspiele, jungen Menschen fällt immer etwas ein, was man spielen könnte, und sie fühlen sich von Spielangeboten meist magisch angezogen. Selbstbestimmtes Lernen steht dafür, auf eigene Initiative durch Spiel und Spaß die Welt zu entdecken und sich nebenbei viele Fähigkeiten und Wissen anzueignen. Gleichzeitig wird gesamtgesellschaftlich gesehen freies Spielen unter Kindern immer seltener, fast alle Freizeitangebote werden von Erwachsenen organisiert und Spiele werden auch zu kommerziellen und manipulativen Zwecken eingesetzt. Dabei lebt es sich voll echtem Spiel und Spaß nicht nur als junger, sondern auch als erwachsener Mensch wesentlich leichter und fröhlicher. In dieser Ausgabe dreht sich alles um das Thema Spielen, im praktischem als auch im theoretischen Kontext.
Die Schulpflicht wird aus sehr unterschiedlichen Motiven heraus in Frage gestellt. Homeschooling und Freilernen kann auch dazu missbraucht werden, junge Menschen in engen und extremen weltanschaulichen und moralischen Vorstellungen gefangen zu halten oder Misshandlungen und Verwahrlosung, sei es systematisch oder aus Überforderung, zu vertuschen. Wenn Freilernen rechtlich möglich gemacht werden soll, muss klar sein, wie der Schutz vor Isolation und Indoktrination aussehen kann und wie das körperliche und seelische Wohl von jungen Menschen bewahrt werden kann. Auch innerhalb unserer Redaktion hatten wir zu diesem Themenfeld sehr intensive Diskussionen. Entsprechend kontrovers sind die Beiträge zu dieser Ausgabe.
Das Schwerpunktthema dieser Ausgabe ist »Bildungsorte«. Neben Berichten von selbstorganisierten Bildungsprojekten sind auch Beiträge dabei, die über Gärten und Wälder als Bildungsorte berichten. Es geht um Visionen einer Bildungslandschaft, konkrete Beispiele aus der ganzen Welt, um Netzwerke, Strukturen und Erfahrungen, aber auch um die eindringliche Warnung, Bildung nicht an bestimmten Orten fest zu machen…
Durch und durch ist unsere Gesellschaft immer noch von patriarchalen Strukturen geprägt. Auch da wo Frauen* in Männerdomäne vordringen, müssen sie »ihren Mann« stehen. Männer*, die den gängigen Vorstellungen von Mann nicht entsprechen, sind keine »echten Männer«, sind Memmen. Und Menschen, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen, werden gleich gar nicht wahrgenommen. Was für Frauen und Kinder* gut sein soll, entscheiden oft Männer. Die Meinung der Betroffenen ist dann vielfach uninteressant und wird nicht ernst genommen. Wir alle haben vielfältige Erfahrungen mit patriarchaler Gewalt und es hilft uns allen, sie zu benennen, um Veränderung in uns und um uns herum zu bewirken.
Zum Thema »Sprache – Sprechen, Lesen, Schreiben« gab es eine große Resonanz. Wir haben beim Layout etwas gepuzzelt und die Artikel eng aneinandergesetzt, um möglichst alle Beiträge abdrucken zu können. Dabei kommen wir mit dieser Ausgabe erstmals auf 64 Seiten, prall gefüllt mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen, Überlegungen und Diskussionsbeiträgen.
Schulen können Gemeinschaft, aber auch Freiräume bieten, in denen es Begleitung und Unterstützung gibt. Mit verschiedenen Materialien, Werkstätten und Büchern laden sie dazu ein, sich auszuprobieren. Auf der anderen Seite müssen Schulen staatlichen Vorgaben entsprechen und Kompromisse eingehen, damit sie existieren dürfen. So sind Schulen z.B. dafür verantwortlich, dass die angemeldeten jungen Menschen die Schulpflicht erfüllen. Hinzu kommen die Erwartungen der Gesellschaft, der Schüler*innen, Begleiter*innen und Eltern, wie Schule sein und was in ihr passieren sollte. Wie frei kann Schule sein?
»Kinder« und »Arbeit« sind in unserer Gesellschaft getrennt gedachte Bereiche. Kinder dürfen nicht arbeiten und sind in der Schule, auch damit ihre Eltern Zeit für Erwerbsarbeit haben. Doch wie finanzieren sich eigentlich Freilerner-Familien? Welche Arbeiten sind mit Kindern möglich? Wo können junge Menschen in Arbeiten hineinwachsen? Ist das Verbot von Kinderarbeit für die betroffenen jungen Menschen weltweit wirklich hilfreich und schützend? Muss Arbeit denn überhaupt sein? Und was wird als Arbeit anerkannt und gesehen?
Der Umgang mit Medien ist unterschiedlich und so wird in diesem Heft über die verschiedensten Erfahrungen und Ansichten berichtet, die teilweise auch sehr widersprüchlich sind. Wie auch sonst, gibt es nicht den einzig richtigen Weg, sondern geht es immer wieder um Offenheit, Achtsamkeit und darum, genau hinzuschauen und hinzuspüren, was die jeweils eigene Situation erfordert.
Muße, oder: Über die Unterordnung des erlaubten Materialismus unter kapitalistische Notwendigkeiten
Es gab eine Zeit, in der Adel und Klerus als »Klasse der Müßiggänger« 1 bezeichnet wurden. Zu tun und zu lassen, was einem beliebt und sich ganz frei von Notwendigkeiten allein privaten Neigungen, Wünschen und Genüssen hinzugeben, kurz: seinen Materialismus zu leben, so etwas wird nur dann zum Etikett einer ganzen »Klasse«, wenn in der Gesellschaft andere »Klassen« dazu genötigt sind, nicht nur für den eigenen Lebensunterhalt, sondern zugleich noch für den der »Müßiggänger« zu sorgen. Dabei versteht es sich von selbst – die Rede ist ja vom Feudalismus -, dass die Sorge für das leibliche Wohl und für alle materiellen Voraussetzungen sonstiger mehr oder weniger blöder Neigungen der hohen Herrschaften den dienstbaren Geistern der Gesellschaft wenig Zeit ließ, für sich selbst und die Seinen erstens anständig zu sorgen und zweitens dabei noch freie Zeit für eigene »Muße« zu erübrigen – vom Kirchgang, erzwungen mit der Androhung jenseitiger Scheußlichkeiten durch die klerikale Abteilung der »Müßiggänger«, einmal abgesehen. Und jede noch so elementare Weiterentwicklung der Produktivkräfte, die an sich eine Sorte Teilung der Lebenszeit in Arbeitszeit und freie Zeit für jedermann erlaubt hätte, bei der die Arbeit nicht das Leben auffrisst, sondern eine Zeit der Muße für alle ermöglicht, wäre unter den feudalen Verhältnissen ohnehin nur der herrschenden »Klasse der Müßiggänger« zu Gute gekommen. Weiterlesen
Ob diese Bezeichnung von Henri de Saint-Simon eine korrekte Bestimmung oder nur eine Polemik darstellt, ist für mich erst einmal nicht von Interesse. Auf jeden Fall trifft sie einen, nämlich den angesprochenen Gesichtspunkt des parasitären Daseins dieser »Klasse«. ↩
Ihr Beitrag in der letzten Ausgabe vom „Freilerner“ hat mich sehr angesprochen: Ich konnte darin vieles sehr genau beschrieben wiederfinden, das sich mit meinen persönlichen Erfahrungen im Bereich der Schulkritik, der ich mich als Philosoph seit etwa fünfzig Jahren intensiv widme, deckt und worüber ich auch schon hatte kritisch nachdenken können. Solchermaßen dankbar für die positive Anregung, möchte ich drei Punkte aufgreifen und erörtern:
Wie steht es in Bezug auf Schulkritik mit der politischen Aktion (oder dem Aktionismus? oder der Agitation?)
(Nur) Begriffliche Mißverständnisse?
Perspektiven?
1. Das Anführen des Politischen ruft fast selbstverständlich nach der Frage der Führung, nach der einige der schulkritischen Menschen offensichtlich „gieren“. Unter den diversen Färbungen dieser Führung können wir, einer allzu billigen Pauschalierung entgegenwirkend, unterscheiden zwischen
der politischen Führung, welche die Gefahr rechtskonservativer bis faschistoider Positionen birgt;
der (pseudo?-)esoterisch daherkommenden Führung, welcher die Gefahr innewohnt, daß manche Menschen darin eine Zuflucht suchen; wie auch immer sie ihr Handeln somit begründen wollen, sind sie hierbei vor verschiedenen Abstrusitäten nicht gefeit; der ideologischen, religiös-missionarischen Führung, um den Nachwuchs zu den höheren Zielen der Eltern zu (ver-)führen.
Der pädagogischen Führung in Gestalt einer „(schul-)pädagogischen Reform“; Schulkritik bewegt sich dann zwischen der Larmoyanz über das eigene erzieherische Schicksal und den Vorstellungen, durch welchen Reformversuch („Alternative“) dem Nachwuchs solches Schicksal erspart werden möge.
Nachdem mir pauschale politische, ideologische religiöse oder pädagogische Parolen immer schon suspekt oder unheimlich waren ob der Gefahr, lediglich in Sackgassen zu führen, halte ich mich von allen diesen Tendenzen fern. Deshalb interessiert mich weitaus weniger eine Position entlang der politischen Links-Rechts-Schemata als die Frage der Möglichkeit, hieraus auszubrechen und eine lebenslange Selbstentfaltung des Menschen zu ermöglichen und zu gewährleisten. Weiterlesen
Im letzten Herbst durfte ich mit einem Reisestipendium zwei Monate durch Frankreich reisen und dort bei 15 Familien leben, deren Kinder nicht in die Schule gehen.
Ich selbst bin 11 Jahre lang an eine Reformschule gegangen, an der vor allem projektorientiert und in altersgemischten Gruppen gearbeitet wird. Nach der Zeit dort konnte ich sagen, dass es sich wie eine große Familie angefühlt hat. Und das trotz den stressigen letzten Jahren vor dem Wechsel in die Oberstufe, trotz den Hierarchien unter den SchülerInnen, trotz der Mobbingerfahrungen, trotz mancher Willkür von Seiten der LehrerInnen. Insgesamt ging es mir dennoch sehr gut an dieser kleinen alternativen Schule, denn ich habe viele Menschen kennengelernt und viele unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt, viele Aktivitäten unternommen, viel Gemeinschaft und Freiraum erlebt. Das war sozusagen der Grundstein für die Arbeit, der ich jetzt nachgehe.
Nach der Zeit an der Reformschule bin ich auf ein Oberstufengymnasium gewechselt – eine für das bestehende Schulsystem immer noch sehr alternative Schule. Im ersten Jahr habe ich mich zwischen uninteressierten LehrerInnen und SchülerInnen wiedergefunden, alle entweder gefesselt am iPhone oder nur wegen Geld oder dem Abschluss in der Schule. Die LehrerInnen haben uns mit den ausgefallensten Beleidigungen überhäuft, wir SchülerInnen waren zunehmend resigniert. Für mich war es der blanke Horror. Ich habe nächtelang wachgelegen und es hat mich förmlich zerfetzt, weil ich nicht verstehen konnte, wie es so viel Sinnlosigkeit an einem Ort geben kann, so viele Menschen, die ohne einen ersichtlichen Grund jeden Tag von Neuem etwas machen, was sie im Innersten ablehnen. Während gleichzeitig so viele Probleme in der Welt bewältigt werden sollten. Weiterlesen
Grundsätzlich bin ich nicht gewillt, mich einfach so damit zu arrangieren, was vorgegeben ist. Was nicht zwangsläufig bedeutet, daß ich alles verwerfe. Doch wird alles geprüft, ob es so für mich (noch) stimmt. Ständig. Nach dem zu urteilen, was die meisten Leute laufend von sich geben, sind sie alle unzufrieden damit, wie ihr Leben eingerichtet ist. Trotzdem machen sie weiterhin was vorgegeben ist. Viele Programme sind schon so lange verinnerlicht, daß es sich anfühlt, als seien es natürliche Gegebenheiten, die einfach zum Leben dazugehören. “So ist es eben”, oder “da kann man halt nichts machen” heißt es dann oft. Weiterlesen
Auf den ersten Blick ist Nichtstun in der Pädagogik negativ besetzt. Man denkt an »Faulenzer«, »Sitzenbleiber« und an so genannte »Taugenichtse«, vor denen uns wohlmeinende Menschen immer warnen. Pädagogik, Bildung und Erziehung sind vielmehr – so die Meinung – dynamische Prozesse, bei denen Educandus und Educand fleißig, strebsam, gehorsam, aktiv und stets bereit zur Höchstleistung zu sein haben – denn schließlich sind »Lehrjahre keine Herrenjahre«. So der Volksmund und eine weit verbreitete Ansicht.
Muße und Nichtstun sollen im Folgenden dagegen als eine pädagogische Grundfunktion, gleichsam als Voraussetzung für gelungene Bildung und Erziehung, definiert werden. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln wird dazu das Nichtstun betrachtet, um anschließend für die Pädagogik ein Resümee zu ziehen. Weiterlesen
Das Fremde zu respektieren, willkommen zu heißen und zu integrieren, verlangt die Vielfalt unter den schon hier Lebenden und – ja auch – die Vielfalt willkommen zu heißen!
Vor drei Jahren, am 5. November 2012 fand in Wandlitz am Nordostrand von Berlin, wo bis 1989 in einer abgelegenen Waldsiedlung die Politbüroprominenz der SED ihr abgeschottetes, kleinbürgerliches Privilegien-Dasein führte, die größte Versammlung seit der Wende statt: Mehr als 400 Menschen hatten sich versammelt, um mehrheitlich zum Ausdruck zu bringen: »Nein zum Heim!«. Gemeint war das geplante Flüchtlingsheim im leer stehenden ehemaligen Oberstufenzentrum.
Eine Initiative “für humane Einzelunterbringung, gegen ein Flüchtlingsheim” hatte in kurzer Zeit 400 Unterzeichner und Unterzeichnerin gefunden, darunter fast die gesamte Gemeindevertretung. Wie sich später herausstellte, war es ein ungewolltes Bündnis von jenen, die wirklich humane Wohnverhältnisse für Geflüchtete forderten und jenen, für die diese Losung angesichts kaum vorhandener (nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bezahlbarer) Flüchtlingswohnungen darauf hinauslief: »Keine Flüchtlinge in Wandlitz!«.
In der Nacht vorher fasste ich den Entschluss, trotz der zu erwartenden Widerstände einen Diskussionsbeitrag zu halten, der angesichts von bis dahin schon 18.000 im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen aber auch angesichts zig tausender während der Nazizeit auf allen Kontinenten aufgenommener rassisch und politisch Verfolgter aus Deutschland, für die Solidarität mit den Geflüchteten aufrief. Weiterlesen