Kinderarbeit durch Zwangsarbeit verhindern?

ODER Die Schulpflicht und der Artikel 12 GG (Freiheit der Berufswahl)

Text: Sylvia Müller (Initiative frei-sich-bilden – INFSB)

Als eines der großen Argumente für die Beibehaltung der Schulpflicht und als Glanzlicht ihrer Errungenschaften wird auch heute noch immer wieder angeführt, dass ihre Einführung notwendig gewesen sei, um der zunehmenden Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in Fabriken und im elterlichen Haushalt Herr zu werden.

Die Schulpflicht sei darüber hinaus die einzige Möglichkeit gewesen, Kindern besonders in der Anfangszeit der Industrialisierung Freiräume zu schaffen, um ein Mindestmaß an Bildung, gemeint waren in erster Linie Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen, für alle zu garantieren. Heute verlagert sich die Begründung gerne auch hin zum Schutz vor Verwahrlosung, sozialer Vereinsamung und Schule als Ort der Anerkennung, der Zuflucht und Rettungsanker vieler Kinder.

Ich möchte nicht in Abrede stellen, dass die Möglichkeit des Schulbesuchs für viele junge Menschen ein Segen war und eine Möglichkeit, der besonders in der ersten Zeit der Industrialisierung durchaus um sich greifenden Ausbeutung in Industriebetrieben zu entkommen. Und auch heute kenne ich junge Menschen, die sich vor den Ferien fürchten und ihren Lehrer oder ihre Lehrerin als einzige vertrauenswürdige erwachsene Bezugsperson wahrnehmen.

Was mich an der oben erörterten Argumentation immer wieder beschäftigt, zielt jedoch eher in eine andere Richtung und erklärt vielleicht den zugegebenermaßen provokanten und plakativen Titel dieses Artikels:
Ich möchte die These aufstellen, dass die deutschen Schulpflichtgesetze, diejenigen Landesverfassungen, die die Festlegung der allgemeinen Schulpflicht zum Inhalt haben, sowie der praktische Zwang junger Menschen zum Schulbesuch und zur Unterwerfung unter die schulischen Regelungen in unzulässiger Weise gegen den Artikel 12 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland verstoßen.

Nehmen wir nun einmal an, wir hätten die Aufgabe, junge Menschen berechtigterweise vor Ausbeutung, Zwang und/oder Verwahrlosung oder Gewalt zu schützen und hierfür konkrete Maßnahmen zu ergreifen.
Wie würden wir die Einführung einer allgemeinen, lückenlosen Zwangsveranstaltung heute sehen? Vor welchen Herausforderungen stünden wir als Gesetzgeber?

Dilemma 1: In welchem Maße hat die Einführung der Schulpflicht zu Beginn junge Menschen vor Ausbeutung durch Eltern und Industrie geschützt?

Bei dieser Frage muss ich immer an die Generation meiner Großeltern und auch teilweise an die meiner Eltern denken. Von meiner Oma weiß ich, dass sie sehr früh aufstehen und schon vor der Schule ihre »Pflichten im Haus« erledigt haben musste. Nach der Schule standen weitere Pflichten an. Erlassen hat man ihr wegen ihres Schulbesuchs nur das Nötigste.

Hat sie nun durch die Schulpflicht weniger arbeiten müssen oder eher mehr? Hätte ihr jemand geholfen und das Zuviel an Arbeit unterbunden, wenn sie sich bei irgendeiner »offiziellen Stelle« (bei welcher, Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland?) beklagt hätte, oder hätte man sie weggeschickt und ihr wegen ihrer Unverschämtheit ordentlich Schwierigkeiten bereitet? Ich kann sie nicht mehr fragen, denn sie ist bereits verstorben.

Dennoch war es zugegebenermaßen wohl kaum möglich, gleichzeitig in die Schule zu gehen und in einem Industriebetrieb zu arbeiten, wenngleich auch das nicht ausgeschlossen werden kann. Mit der Zeit hat sich aber allem Anschein nach das Paradigma verbreitet und durchgesetzt:
»Kinder arbeiten nicht, sie gehen zur Schule. Schule ist außerdem das Wichtigste. Andere Aktivitäten sind nachrangig.«

Ich erinnere mich, dass ich als Jugendliche eigentlich durchgängig einen Job neben der Schule hatte. Freiwillig und nicht selten mit Freude. Das Geld, was ich dabei verdiente, war mein ganz eigenes – ich war stolz darauf, es zu haben und es zu sparen, es auszugeben, jemanden damit eine kleine Freude zu machen. Gibt es das heute noch häufig? Ist dafür Zeit neben Nachhilfe, Ganztagsschule, Hausaufgaben…?

Dilemma 2: War die Schulpflicht bei ihrer Einführung die beste verfügbare Lösung des »Kinderarbeitsproblems«?

Ich finde, dass diese Frage sehr schwer und gleichzeitig auch sehr leicht zu beantworten ist – und zwar je nachdem, aus welcher Perspektive sie betrachtet wird.

Aus Sicht der Entscheider gab es noch ganz andere Kriterien, die zur Einführung der Schulpflicht führten, daran habe ich keine Zweifel. Diese Kriterien möchte ich aber hier gar nicht ausbreiten und in die Diskussion bringen, denn sie würden letztlich am Thema vorbei führen. Sicher scheint für mich, dass aus Sicht der Entscheider, also aus politischer Sicht, eine Maßnahme her musste, die folgenden Kriterien entsprach:

  • Sie musste SCHNELL UMSETZBAR sein und durfte nicht Jahrzehnte beanspruchen.
  • Sie musste möglichst GUT UMSETZBAR UND LEICHT KONTROLLIERBAR und damit im konkreten Einzelfall DURCHSETZBAR sein.
  • Sie durfte NICHT ZU KOMPLEX sein.

Diese Kriterien erfüllt am besten eine Maßnahme die:

  • FLÄCHENDECKEND ALLE BETRIFFT, ungeachtet dessen, ob sie von Ausbeutung bedroht und betroffen sind oder nicht.
  • BESTEHENDE RESSOURCEN NUTZT und nur noch ausbaut (es gab das Modell Schule ja bereits seit Jahrhunderten, wenn auch nicht flächendeckend).
  • nach dem »GIESSKANNENPRINZIP« arbeitet.

Der verpflichtende Schulbesuch scheint mir hier durchaus eine der besten verfügbaren Maßnahmen gewesen zu sein, die zur Verfügung standen.

Aus Sicht der betroffenen jungen Menschen sieht die Sache schon komplizierter aus. Zum Einen waren unterschiedliche Menschen in ganz unterschiedlichen Situationen.

Jungen und Mädchen, die massiv ausgebeutet wurden, denen jeglicher Zugang zu Bildung, Spiel, verwehrt wurde, die körperlich hart arbeiten und unter unmenschlichen Bedingungen schuften mussten, empfanden den Schulbesuch sicher teilweise als einen Segen. Selbst wenn in den Schulen zu der Zeit Züchtigung und emotionale Härte an der Tagesordnung waren, war sie für solche Jungen und Mädchen oft das kleinere Übel.

Auch von meiner Oma kenne ich den Ausspruch: »Ich bin zwar nicht gerne zur Schule gegangen, weil es dort auch nicht schön und niemand nett zu mir war. Aber es war trotzdem manchmal eine Erholung gegenüber zu Hause.« Noch lieber hätte sie wahrscheinlich ein freundlicheres Zuhause gehabt oder aber einen anderen Zufluchtsort, der ihr Bildung wie auch respektvolle Begegnungen auf Augenhöhe und Sicherheit vor Übergriffen geboten hätte, zumal sie häufig heftige Schläge von ihrem Lehrer einstecken musste.

Mädchen und Jungen, die sich in ihrem Umfeld wohl fühlten (und es kann mir niemand weismachen, dass es die damals nicht gab), die sich bilden durften und die nicht ausgebeutet wurden, empfanden die Schulpflicht vielleicht nicht unbedingt als willkommene Rettung. Wovor auch? Wenn es um den Zugang zu Bildungsmöglichkeiten im Sinne von Lesen, Schreiben und Rechnen ging, so hätte man (abgesehen davon, dass zur Zeit der Einführung der Schulpflicht die Alphabetisierungsrate durchaus nicht niedrig war, genauso wenig wie die Fähigkeiten der Menschen zu rechnen und logisch zu denken) vielleicht gerne Möglichkeiten gehabt, beispielsweise einen besonders schreibkundigen Menschen besuchen zu dürfen und von ihm zu lernen. Wollte jedoch auch nur einer dieser jungen Menschen dazu gezwungen werden – so begierig er vielleicht ein solches Angebot freiwillig angenommen hätte? Ich habe große Zweifel.

Die Frage nach der Schulpflicht als »bester verfügbarer Lösung für das Kinderarbeitsproblem in den Anfängen des Industriezeitalters« ist damit für mich beantwortet – wenn auch zweideutig.

Die Antwort auf die Frage nach dem Schutz vor Vernachlässigung und häuslicher Gewalt möchte ich hier nur streifen, da sie uns vom eigentlichen Thema des Artikels und dieser Ausgabe der Freilerner-Zeitschrift weg führt: Klar ist, dass ein Mensch, der zu Hause massive Gewalt erfährt, vor dieser Gewalt geschützt ist, sobald er sich in einem Bereich befindet, auf den die Täter keinen Zugriff haben. Doch schützt ihn das erfahrungsgemäß auch nur für diese Zeit und nur vor dieser einen Gewalt in seinem Leben. Viele Lehrerinnen und Lehrer, ganz besonders an den sogenannten Förderschulen, leisten hier fast Unmenschliches, indem sie diesen jungen Menschen Bezugspersonen, Vertraute und vielleicht auch teilweise Beschützer sind. Dass dies jedoch nicht ihre eigentliche Aufgabe ist und auf Dauer sein kann, und dass auch ihre Möglichkeiten massiv begrenzt sind, muss immer wieder klar hervorgehoben werden.

Worauf sollten wir, immer noch in unserer gedachten Entscheider-Rolle, also heute achten, wenn wir über »Kinderarbeit« nachdenken?

Wir sollten mit der heute flächendeckenden Zwangsarbeit für Kinder und Jugendliche in Deutschland aufräumen!

Würde ich mit diesem Slogan irgendwo auf die Straße gehen, sähen mich vermutlich fast 100% der Menschen, die mich beobachteten, verständnislos an oder zeigten mir offen einen Vogel (wenn sie nicht ihre eventuell hochkommenden Aggressionen auf noch schlimmere Weise entlüden).

Was meine ich eigentlich damit? Es gibt doch keine Zwangsarbeit mehr. Das regelt das Grundgesetz mit dem Artikel 12 zur Freiheit der Berufswahl.

Schauen wir uns den Artikel zum sogenannten »Zwangsarbeitsverbot« einmal genauer an.

Dabei klammere ich bewusst die immer noch gemäß Artikel 12 Satz (3) GG legale und praktizierte Zwangsarbeit bei Gefängnisinsassen aus, denn so interessant es wäre, diese Tatsache zu diskutieren: Schülerinnen und Schüler sind keine Inhaftierten im Sinne des Artikel 12 GG. Satz (3) aus Artikel 12 GG ist daher für unsere Fragestellung irrelevant.

1Artikel 12 Absatz (1) GG verwendet überwiegend Begriffe, die auf das Erwerbsleben von Erwachsenen ausgelegt sind. Daher findet Artikel 12 des Grundgesetzes im Zusammenhang mit Belangen junger, noch nicht im Erwerbsleben stehender Menschen, kaum Beachtung.

Wie wahrscheinlich leicht vorherzusehen war, geht es mir hier wiederum um die Schulpflicht und zwar in erster Linie im Zusammenhang mit Absatz (2) von Artikel. 12 GG, der festlegt, dass »niemand« (auch nicht ein junger Mensch) »zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden [darf], außer im Rahmen einer für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.«

Eine öffentliche Dienstleistungspflicht stellt der Schulbesuch eindeutig nicht dar, und er ist schon gar nicht für alle gleichermaßen verpflichtend. Menschen, die das (sehr willkürlich festgelegte) Schulalter noch nicht erreicht haben oder diesem schon entwachsen sind, haben diese Pflicht nämlich noch nicht oder nicht mehr.

Nach dem Schulgesetz haben junge Menschen als »Schülerinnen und Schüler an Schulveranstaltungen teilzunehmen, eigene Leistungen und die erforderlichen Leistungsnachweise zu erbringen«. 2

Außerdem müssen sie den Anweisungen der Lehrer/innen Folge leisten, denn sonst drohen Schimpfen und Druck, schlechte Noten, Klassenbucheinträge, Nachsitzen, Strafarbeiten, Elterngespräche, Unterrichtsverweise, »Sitzenbleiben« und sogar der Schulverweis.

Junge Menschen werden durch Schulgesetz und Pflichtschule also sehr wohl zu Arbeiten gezwungen und zwar unentgeltlich, über mehrere Stunden am Tag, über Jahre hinweg und ohne Alternative. Verweigern sich »Schüler« ganz, bleiben sie also dem Unterricht fern, können sie bekanntlich mit Polizeigewalt zur Schule gebracht werden, und das sogar noch, wenn ihnen vorher ein Schulverweis erteilt wurde. Dann wird eben, wenn es gar nicht mehr anders geht, der zuständigen Förderschule zugeführt, denn von der darf nicht ausgeschlossen werden. Auch die Trennung von ihrer Familie und die Unterbringung in einem Internat oder einer psychiatrischen Einrichtung drohen jungen Menschen bei hartnäckiger Weigerung.

Das alles ist nach meinem Dafürhalten vor dem Hintergrund des sogenannten Zwangsarbeitsverbotes aus Artikel 12 GG äußerst fragwürdig.

Heute werden also alle Jungen und Mädchen im schulpflichtigen Alter dazu gezwungen, sich am »Arbeitsplatz Schule« einzufinden und dort fremdbestimmt Arbeiten zu verrichten, gleich, ob sie sich diese freiwillig selbst ausgesucht hätten, gleich, ob sie eigentlich »Besseres zu tun« hätten und gleich, ob es ihnen gut tut. 

Ist das legitim im Sinne des Grundgesetzes, nur weil dieses »Arbeiten« nicht dem Broterwerb dient und zumindest vordergründig und kurzfristig niemandem nützen soll außer dem jungen Menschen selbst?

Ich erlaube mir hier außerdem einen Vergleich mit der »Freien Berufswahl« unter Erwachsenen:

Abgesehen davon, dass kein erwachsener Mensch mit Polizeigewalt an seinen Arbeitsplatz gezwungen würde und dass jeder erwachsene Mensch auch entscheiden kann, dass er gar keiner Erwerbsarbeit nachgeht, sofern er die finanziellen Folgen davon zu tragen bereit ist, kommt mir bei der Frage, ob es erlaubt sein sollte, sich als junger Mensch ohne Schulbesuch zu bilden immer die folgende (zugegebenermaßen etwas polemische) Frage in den Sinn:

Ist es eigentlich in Ordnung, dass wir es Erwachsenen gestatten, sich freiberuflich oder beruflich selbständig zu betätigen? Müssten wir darüber nicht einmal nachdenken?

Junge Menschen, die wirklich frei, selbstbestimmt und selbstorganisiert leben und lernen, kommen mir immer eher vor wie Selbständige, wie Freischaffende, wie junge, dynamische Unternehmer/innen, die mit Elan und schier unerschöpflicher Energie und Zeit ihren Zielen folgen – und nicht wie faule vor sich hindämmernder Bildungsverweigerer, wie es durchaus gerne immer wieder unterstellt wird.

Erwachsene Unternehmerpersönlichkeiten und Menschen, die ihr Leben in die Hand nehmen und auf ihren eigenen Füßen stehen, manchmal entgegen aller Unkenrufe und mit anfänglichen Rückschlägen und finanziellen Einbußen, stoßen fast ausnahmslos auf Bewunderung und Hochachtung in unserer Gesellschaft (und natürlich auch auf Neid). Junge Menschen, die für sich einen solchen Weg in Anspruch nehmen, werden dagegen als Versager/innen stigmatisiert, bevormundet und mit massiven Repressalien an der Verwirklichung ihrer Ziele gehindert. Ist das nicht seltsam?

Ich möchte mich außerdem – wiederum im Zusammenhang mit der Schulpflicht – einmal der Frage stellen, ob es »in Ordnung« ist, dass Menschen unterhalb einer bestimmten Altersgrenze in Deutschland keiner entgeltlichen Tätigkeit nachgehen dürfen sollen oder dass ihr Recht dazu stark eingeschränkt wird auf eine bestimmte Zeitdauer, auf bestimmte Tätigkeiten, auf ein bestimmtes Maximal-Entgelt?

Ich beziehe mich hier wohlweislich nicht auf die Situation in Ländern, in denen junge Menschen ganz selbstverständlich arbeiten, zum Familieneinkommen beitragen und damit heute vielleicht in einen Konflikt mit Bestrebungen zur Einschränkung der »Kinderarbeit« geraten, der sie sehr belasten und kränken kann. Auch lasse ich die nach wie vor stark verbreitete industrielle Ausbeutung von jungen Menschen in Teppichwebereien, Diamantminen und ähnlichen Stätten bewusst außen vor.

Wieder frage ich mich: Warum ist ein freiwilliges Arbeiten in einer selbstgewählten Tätigkeit, die jederzeit aufgegeben werden kann und bei der ein junger Mensch ein für ihn angemessenes Entgelt bezieht, als ausbeutende Kinderarbeit abzutun oder rechtlich mit ihr gleichzusetzen?

Auch hier steckt die Problematik sicher weniger in der Böswilligkeit der »Entscheider«, sondern eher in der Notwendigkeit einer praktikablen Lösung aus deren Sicht, bei der wieder die Kriterien

  • schnelle und leichte Umsetzbarkeit
  • leichte Kontrollierbarkeit
  • konkrete Durchsetzbarkeit und
  • niedrige Komplexität

eine große Rolle spielen.

Mit entsprechender Bereitschaft und gutem Willen könnten hier jedoch sicher auch Lösungen gefunden werden, die das Bedürfnis junger Menschen nach eigener, wertgeschätzter Arbeit angemessen befriedigen könnten.

Was mich, gerade im Zusammenhang mit der Schulpflicht, allerdings ganz besonders beschäftigt, wenn wir als Gesellschaft und Staat uns entscheiden, ein Verbot von »Kinderarbeit«, wie es in der heutigen Form besteht, zu bejahen und beizubehalten, sind folgende Fragen:

  • Junge Menschen sollen noch nicht in einem Betrieb arbeiten dürfen. Wie kann es dann sein, dass Schülerinnen und Schüler verpflichtende Berufspraktika zu absolvieren haben? Warum dürfen (oder müssen) das in manchen Schulen bereits Zehnjährige?
  • Warum sind unentgeltlich zu leistende, beispielsweise wegen Schulpflichtverletzung staatlich verordnete Sozialstunden ok und sogar förderlich für einen jungen Menschen, die entgeltliche, freiwillige Mitarbeit in einem Tierheim oder einer anderen Einrichtung jedoch verbotene Kinderarbeit?
  • Das Verbot von Kinderarbeit soll junge Menschen vor Schäden durch körperliche, seelische und geistige Ausbeutung schützen. Wer schützt junge Menschen vor den Gefahren, die ihren Körpern durch stundenlanges Sitzen in Klassenräumen, durch fehlende Sonneneinstrahlung und Frischluft, durch Bewegungsmangel etc. drohen? Ist ein Wirbelsäulenschaden durch stundenlanges Sitzen im Klassenraum weniger schlimm als ein Wirbelsäulenschaden durch stundenlanges Sitzen vor einem Webstuhl? Wer schützt sie vor dem geistigen Abstumpfen, das durch die zwangsweise Beschäftigung mit Tätigkeiten und Themen, die sie nicht interessieren, hervorgerufen wird? Wer schützt sie vor emotionalen Bedrohungen durch Zwang, Mobbing, Lob und Strafe?

Für mich gibt es hier einen starken Widerspruch.

Wie können staatlich verordnete, im Zweifelsfall erzwungene, dauerhafte Tätigkeiten junger Menschen rechtens, in Ordnung, richtig und sogar notwendig sein, wenn in unserem Land gilt: »Kinderarbeit verboten!«

Einzig und allein ein starkes Tabu kann verschleiern, dass junge Menschen in Deutschland Zwangsarbeit verrichten – ich finde es wichtig, dieses Tabu zu enttarnen, auch wenn ich mich dafür vielleicht anfangs der Lächerlichkeit preisgeben muss. ◼


Der Artikel 12 GG [Freiheit der Berufswahl]:

(1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.
(2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.
(3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.
(Aus der zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels aktuellen Fassung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland)

Die Initiative Frei-Sich-Bilden – INFSB:

Wir sind eine Initiative, die sich für das Recht jedes Menschen einsetzt, sich frei und selbstbestimmt zu bilden – auch ohne den Besuch einer Schule. Uns allen gemeinsam ist der Wunsch, dass junge Menschen in Deutschland diesen Weg einschlagen können, ohne dass sie und ihre Familien in Konflikt mit Gesetz und Behörden geraten und Repressalien befürchten müssen. Dafür leisten wir deutschlandweit und in untereinander vernetzten Landesgruppen Aufklärungsarbeit auf allen Ebenen von Politik, Verwaltung und Gesellschaft.
Webseite: infsb.de

Der Artikel ist 2018 in Heft 79 – Kinder & Arbeit erschienen.

 

  1. Die folgende, kursiv gesetzte Passage findet sich bis auf kleine Änderungen, die zur Einpassung in den vorliegenden Artikel durchgeführt wurden, in der Informationsbroschüre der Initiative Frei-Sich-Bilden (INFSB) als Kapitel 4.1.5 auf Seite 20.
  2.  Vgl. in diesem Fall §64 Abs. (1) SchulG Rheinland-Pfalz, ähnliche Formulierungen finden sich in den Schulgesetzen aller Bundesländer.