Wo die Suche beginnt

Über Widersprüche zwischen Form und Anliegen des Anti-Adultismus

Text: Emil Funkenflieger, mit Gedanken und Inspirationen von Juli Vethacke

Das einprägsame Wort »Adultismus« begegnet mir in letzter Zeit immer häufiger. Es bezeichnet, kurz gesagt, innere Haltungen oder äußere Strukturen, durch die Menschen aufgrund ihres jungen Alters diskriminiert werden. »Das kannst du noch gar nicht verstehen, dafür bist du noch zu jung« oder »Kinder muss man manchmal zu ihrem Glück zwingen« können zum Beispiel typisch adultistische Aussagen sein. Und wer eine Zeit lang seinen Blick dafür schärft, der wird eine Vielzahl von kleinen und unscheinbaren und doch überall wirksamen und unser gesamtes Leben durchdringenden Gewohnheiten und Strukturen entdecken, die eine ungerechte Behandlung junger Menschen zum Ausdruck bringen und zugleich reproduzieren.

Diese Blickrichtung ist natürlich nicht völlig neu, sondern baut auf vielen Erkenntnissen auf, die schon in den 60er und 70er Jahren unter den Oberbegriffen »Antiautoritäre Erziehung« und später dann »Antipädagogik« intensiv bearbeitet wurden. Besonders erstaunlich finde ich hier, dass damals auch schon Braunmühl gefordert hat, dass in den Artikel 3 des Grundgesetzes, der die Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Religion und politischer Anschauung verbietet, ebenfalls der Abschnitt »Aufgrund des Alters« aufgenommen wird1. Nur ist damals keiner auf die Idee gekommen, neben den geläufigen Worten wie Sexismus oder Rassismus ein eigenes Wort für Altersdiskriminierung zu schaffen.

Das Auftauchen eines solchen Wortes ist nicht nur Zeichen für eine wiedererstarkende Aufmerksamkeit für solche Phänomene. Auch umgekehrt wird die Möglichkeit, diesen Phänomenbereich nun schnell und treffend zu bezeichnen, wiederum die bewusste Wahrnehmung dieser Phänomene ungemein verstärken, ihnen einen Teil ihrer unheimlichen Macht und Wirkungsweisen nehmen 2 und auch unser Denken maßgeblich prägen. Doch gerade deshalb ist es mir ein großes Anliegen, auf einige Gefahren und Missverständnisse hinzuweisen, zu denen das Wort und die Perspektive verleiten können. Denn wie leicht wird die wertvolle Haltung, aus der so ein Begriff entstanden ist, bei einer unzulänglichen Vereinfachung, wie es bei einem schlagkräftigen »Kampfbegriff« wie »Adultismus« leicht geschieht, vergessen und schließlich völlig verkehrt. 3

Eine der typischen Aussagen, die im Kontext des Begriffs »Adultismus« oft auftauchen und die ich ein wenig genauer anschauen will, ist, dass Alter und Erfahrungsreichtum nicht zusammenhängen. Zunächst verwunderten mich solche, durch ihre Vereinfachung offensichtlich falsche, Aussagen. Denn natürlich kann es sein, dass jüngere Menschen in einem bestimmten Bereich mehr Erfahrungen haben, aber wenn diese Aussage auf Erfahrung im Allgemeinen generalisiert wird, bedeutet das, dass eine wesentliche Qualität älterer Menschen, nämlich ihr Erfahrungsreichtum, missachtet wird. Dann jedoch stellte ich fest, dass solche Aussagen Ausdruck einer Ansicht sind, die sich zunächst gegen die begriffliche Einteilung in »Kinder« und »Erwachsene« richtet, weil diese den jeweiligen Menschen in ihrer Individualität nicht gerecht werden, aber daraus dann tatsächlich schlussfolgert, dass jüngere und ältere Menschen nicht grundsätzlich verschieden sind und dass jede Kategorisierung und Einsortierung aufgrund des Alters falsch und diskriminierend ist.

Da ist nun etwas dran an der Erkenntnis, dass diese Begriffe »konstruiert« sind, dass es das Wort und unser Verständnis von »Kindheit« noch nicht lange gibt, dass sie zumindest teilweise willkürlich sind und dass vielleicht viele der Attribute und Nuancen, die in diesen Begriffen mitschwingen, nicht (mehr) passen. Zum Beispiel, dass Kinder »erziehungsbedürftig« sind und es gilt, sie auf das echte Leben, das erst später beginnt, vorzubereiten. Und es ist mir ein großes Anliegen solche, im kollektiven Unterbewusstsein vor sich hin stinkende Vorstellungen auszugraben, sie sichtbar zu machen und sie mit viel Luft und Aufmerksamkeit zu kompostieren. Doch es hilft nicht, bei dieser »Dekonstruktion« stehen zu bleiben und dann zu sagen, Kinder und Erwachsene sind gleich. Denn es ist auch etwas dran, wenn Maria Montessori ihr ganzes Leben der Aufgabe gewidmet hat aufzuzeigen, dass Kinder anders sind und welcher Art diese Andersartigkeit ist. 4 Es kommt nicht nur darauf an, falsche Vorstellungen zu verwerfen, sondern auch neue, stimmige Vorstellungen aufzubauen.

Meine Vermutung ist, dass das Missverständnis darin begründet liegt, dass hier zwei Begriffe miteinander vermischt werden und dass es sich auflösen lässt, wenn diese Begriffe getrennt und in ihren unterschiedlichen Qualitäten verstanden werden. Diese Begriffe sind Erfahrung und Bedürfnis. 5 Es ist die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Gleichwertigkeit, die dazu verlockt, die Unterschiedlichkeit des Erfahrungsreichtums zu leugnen, doch es ist nicht die Gleichwertigkeit der Erfahrungen, sondern die Gleichwertigkeit der Bedürfnisse, durch die Gerechtigkeit verwirklicht werden kann. Gerechtigkeit liegt nicht darin, ungleiche Menschen gleich zu behandeln, sondern diesen Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht zu werden. 6 Gerade weil jüngere Menschen (grundsätzlich) nicht so viel Erfahrung haben und es ihnen darum einerseits viel schwerer fällt, ihre Bedürfnisse selber zu erfüllen, als auch, sie so zur Sprache zu bringen, dass sie gehört werden, braucht es einen anderen und besonders achtsamen Umgang, damit wir der Gleichwertigkeit ihrer Wünsche und Bedürfnisse gerecht werden können. 7

Die eigentliche Aufgabe ist also nicht nur, unstimmige Umgangsweise weg zu lassen, sondern ein möglichst genaues Verständnis davon zu entwickeln, worin die Unterschiedlichkeit zwischen jungen und älteren Menschen besteht und dann herauszufinden, was unter den heutigen Umständen eine stimmige Umgangsweise und stimmige Strukturen sind. Da diese Unterschiedlichkeit unter anderem 8 im Erfahrungsreichtum der Älteren begründet liegt, ist es eine völlig falsche Vereinfachung, wenn der Begriff Adultismus genutzt wird, um diesen Erfahrungsvorsprung zu leugnen, was nur dazu führt, dass noch unangemessener mit der Ungleichheit umgegangen wird.

Ich möchte der Frage, warum diese Verwechslung geschieht, noch ein paar Gedanken weit folgen: Vielleicht wird der Erfahrungsvorsprung auch deswegen so gerne wegerklärt, weil dann ein einfaches, schönes Weltbild viel leichter aufrecht zu erhalten ist: Alle Menschen sind gleich und wir müssen nur endlich alle gleich behandeln, dann ist alles gut. In dieser Weltsicht gibt es eine einfache Lösung: Wir brauchen nur mit dem Adultismus/Sexismus/Rassismus aufhören. Wenn es jedoch darum geht, einen möglichst stimmigen Umgang mit der Ungleichheit zu finden, dann stehen wir vor einer letztendlich unlösbaren Aufgabe. Hier gibt es nur Annäherungen an eine gute Welt. Leiden und Verletzungen gehören hier dazu. Ich erahne hier eine Angst, die mir auch bei Gesprächen über Inklusion, Geschlechtergleichheit, Veganismus oder Medizin immer wieder begegnet. Dass nicht akzeptiert wird, dass das Leiden zum Leben dazu gehört, dass Leiden ein notwendiger und wichtiger Bestandteil der menschlichen Würde ist, dass es nicht nur eine Lebenskunst sondern auch eine Leidenskunst gibt und dass die Schulung dieser Leidenskunst oft ein viel lebensdienlicherer Weg ist, als die absolute Bekämpfung jeder Form von Schmerz, Tod und Leiden. 9

Auch ich glaube, dass viele Anteile der alten Kategorien nicht (mehr) lebensförderlich sind. Dass zum Beispiel Kinder nicht arbeiten wollen und dass Erwachsene nicht spielen und nicht weinen sollen. Und ich kann die Sehnsucht nach spontanen, echten und authentischen Begegnungen so gut verstehen und den daraus resultierenden Wunsch, all diese erlernten Kategorisierungen und Denk- und Handlungsmuster, die einen echten Kontakt zu dem einzigartigen Menschen vor mir verhindern, endlich weglassen zu können.

Doch ich glaube nicht, dass diese Sehnsucht erfüllt werden kann, wenn wir uns gegen die Kategorien an sich wenden. Ich glaube, dass es hier viel mehr darum geht, die Kunst des Umgangs mit diesen zu erlernen. Unserem faulen, kategorisierenden Alltagsdenken nicht immer die Führung zu überlassen, sondern wach dafür zu sein, wann es Sinn macht, Kategorien einzusetzen, und wann es daran ist, noch einen Moment länger wirklich hinzuschauen, bevor wir unser Urteil fällen. 10 Nicht die Urteile, sondern die Vorurteile sind also das Problem. Nicht die Schubladen, sondern dass der Schrank oftmals in der Mitte des Wohnzimmers steht und uns die Sicht auf die Realität versperrt. 11 Paradoxerweise scheint die prinzipielle Ablehnung der Kategorien ins Gegenteil zu führen. Wie traurig und ohnmächtig habe ich mich schon oft gefühlt, wenn ich in (Achtung, verallgemeinernde Kategorie!) linken Kreisen beobachtet habe, wie die Kategorien »Mann und Frau«, »Heimische und Fremde« und »Erwachsene und Kinder« nun durch die Kategorien »Sexistisch/ Nicht-Sexistisch«, »Rassistisch/Nicht Rassistisch und »Adultistisch/ Nicht-Adultistisch« ersetzt wurden. Wie die Sehnsucht nach echter, authentischer Begegnung jenseits der alten Kategorien zu langen Diskussionen über neue Kategorien führt, und die ständige und subtile Angst, in rassistische/sexistische/adultistische Verhaltensmuster zu fallen, genau diese echte authentische Begegnung verhindert.

Solche Paradoxien scheinen bei allen »Anti-ismen« aufzutauchen. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass sie, wie so viele Ansätze, die für etwas Neues eintreten, auf einer anderen, tieferen Ebene (wie sie für dieses Neue eintreten) in den alten Mustern verhaftet bleiben. Schon im »Anti« der vielen Anti-ismen, steckt eine Qualität, die sie vielleicht eigentlich überwinden wollten. So ist es zum Beispiel erstaunlich, wie in vielen anti- faschistischen Kreisen genau solche vereinfachten Feindbilder wie »der böse Ausländer« oder »der böse Jude«, die bekämpft werden sollen, durch andere vereinfachte Feindbilder ersetzt wurden: Nämlich zum Beispiel »der böse Nazi« oder »der böse Polizist«.

Nun ist aber dieses Beispiel wiederum Beispiel seiner selbst, hat es doch die »antifaschistischen Kreise« völlig unzulänglich generalisiert, ohne diese Verallgemeinerung deutlich zu machen, und diese gedankliche Konstruktion dann als neue Quelle der Dummheit und des Übels hingestellt. 12 Es kann nicht darum gehen, dass dieser Text ein Anti-Anti-ismus Text ist und spätestens, wenn ich feststelle, dass sich dieser Satz nun als Anti-Anti-Anti-ismus verstehen lässt, bemerke ich, dass sich hier die Katze in den Schwanz beißt. Mein Denken kollabiert und ich verstehe, dass ich unter Verwendung des alten Denkens dasselbe einfach nicht verlassen kann. Ein Sprung ins Neue muss geschehen. 13 Bei diesem Sprung besteht die Gefahr, dass die Perspektive des Adultismus auf der gleichen Seite landet, auf der sie abgesprungen ist. Das Wort »Adultismus« kann genutzt werden, um klar und kraftvoll die menschenunwürdigen, gewohnheitsmäßig verwendeten und Lebendigkeit erstickenden Umgangsweisen mit jungen Menschen zu erkennen und anzuprangern. Doch kann es leicht zu einem Todschlagwort verkommen, das die Gespräche beendet und die Menschen trennt. Wo es doch so wichtig ist, dass mit dem Erkennen der nicht-mehr-stimmigen Umgangsweisen die eigentliche, gemeinsame Suche nach neuen stimmigen Umgangsformen beginnt.

Wie diese Suche aussehen kann, möchte ich hier an ein paar Beispielen zeigen. Dabei kann die Suche in zwei Richtungen losschreiten, wobei die erste in die Wut und die zweite in die Trauer führt, doch erst beide gemeinsam wirklich heilsam sein können. Die Perspektive des Adultismus blickt dabei erstmal in die eine Richtung, die vielleicht zu folgenden Erkenntnisgängen führt:

Ich möchte, dass meine Bedürfnisse und Wünsche ernst genommen werden und dass sie gehört werden, selbst wenn ich sie noch nicht so gut ausdrücken kann und noch nicht so viel Erfahrung habe, wie es sich umsetzen lässt. Ich möchte, dass achtsam und vorsichtig mit diesen zarten und zerbrechlichen Pflänzchen umgegangen wird, die meine Wünsche, Träume und Sehnsüchte sind.

Ich glaube nicht, dass irgendjemand anderes besser weiß als ich, was gut für mich ist, und dass es möglich ist, mich zu meinem Glück zu zwingen. Ich habe es satt, dass über meine Zeit, meine Zukunft, wann ich wo, mit wem bin, was ich zu lernen und was mich zu interessieren hat, entschieden wird. Wie kann es sein, dass ich nicht selber entscheiden darf, wann ich wo, wie, mit wem, wie lange bin und was ich tue, was ich esse und trinke, was ich mit meinem Körper mache und wer mich anfassen darf?

Wie kann es sein, dass ich in der Schule nicht ein einziges Mal gefragt worden bin, was ich lernen will, was meine Wünsche sind, in welcher Welt ich leben will und was ich dafür brauche?

Ist es nicht so, dass ich und viele Menschen deswegen auf Erfahrungsangebote und Rat so sehr allergisch reagieren, weil sie ihr Leben lang die Erfahrung gemacht haben, dass der Rat nur so tut, als ob es Rat wäre, aber eigentlich eine FORDERUNG ist. Der Unterschied ist, dass echte RatSCHLÄGE, auch wenn sie manchmal den wunden Punkt treffen, mit einem einfachen »Nein, Danke!« abgelehnt werden können, während unerfüllte Forderungen Sanktionen nach sich ziehen.

Hat nicht gerade diese ständige und für Kinder undurchschaubare Vermischung von Ratschlägen und Forderungen, sodass Kinder nie wissen, ob eine Aussage als wohlmeinender Rat oder als miese Forderung gemeint ist, sowie die ständigen, subtilen Manipulationstechniken (wie zum Beispiel: »Du hast die freie Wahl ob du jetzt erst das Arbeitsblatt bearbeitest und dann die Tafelaufgabe machst oder umgekehrt.« »Von wegen freie Wahl! Nichts von beiden werde ich. Auf den Tisch springen, meinem Klassenkameraden ins Gesicht pupsen und laut lachend über Tische und Bänke springen werde ich!«– Das ist die richtige Antwort auf so eine Aussage!) ja, das gänzliche Unverständnis und die völlige Missachtung des freien Willens der Kinder, zu einem tiefen Misstrauen gegenüber der älteren Generation geführt? Und ist es nicht so, dass dieser Mechanismus auf tragische Weise auf die ältere Generation zurückfällt?

Wir können uns gar nicht vorstellen, was für einen anderen Umgang wir mit Erfahrungen und auch Rat hätten, wenn wir erfahren hätten, dass diese wirklich als Unterstützung für unsere Bedürfnisse und nicht doch als heimliche Manipulationen gemeint sind.

Die Wertschätzung ihrer Erfahrung, die sich viele Erwachsene so sehr wünschen, ist erst möglich, wenn der Wille und die Bedürfnisse der Kinder wirklich respektiert werden.

In diese Richtung kann das Wort Adultismus das Verständnis vertiefen und eine notwendige Wut wecken, die uns die Kraft zum Handeln gibt. Doch für sich alleine bleibt diese Wut eine ohnmächtige, protesthafte und zerstörerische Wut, die abhängig davon ist, dass »Andere«, nämlich »die Erwachsenen« aufhören, die Kinder zu manipulieren. Erst wenn ein Verständnis der zweiten Richtung hinzukommt, kann uns das sowohl von der Abhängigkeit, als auch von den gegenübergestellten Fronten befreien 14:

Wie könnte eine Kultur aussehen, in denen die älteren Generationen sich mit ihrer Erfahrung und mit ihrem Wissen so gesehen und wertgeschätzt fühlen, dass sie kein Bedürfnis mehr danach verspüren, die Wünsche und die Willensimpulse der jüngeren Generationen zu lenken? Welches gesunde und berechtigte Bedürfnis steckt hinter den Manipulationstechniken vieler Eltern? Ist es der Versuch, die eigenen nicht gelebten Träume zu verwirklichen? Erfahren nicht die inneren Kinder der Erwachsenen, wenn wir ihre Erfahrungen ablehnen und nicht akzeptieren, genau jene Verletzungen, vor denen wir die realen Kinder schützen wollen? Und führen solche Verletzungen nicht oft zu einem solchen Umgang mit Kindern, wie wir ihn überwinden wollten? Ist der Unterrichtszwang vielleicht nur ein verzweifelter und verquerer Versuch, den Wert der Erfahrungen der vergangenen Generationen hochzuhalten und Ausdruck davon, dass eben dies nicht gelingt?

Und wie ist es bei mir selber? Schätze ich meine Erfahrungen wert? Akzeptiere und achte ich die Wünsche und Bedürfnisse von meinem inneren Kind? Gehe ich vielleicht mit mir selber so um, wie ich es bei anderen ablehne? Was habe ich für Verletzungen? Wie kann ich diese heilen, damit ich sie nicht an andere weitergeben kann?

Ist es vielleicht auch eine Scham über den Zustand der Welt, die in einer kopflosen »Welt-Rettungs-Getriebenheit« dazu führt, dass unreflektiert auf Rettung verheißende Erziehungsmethoden und Manipulationstechniken zurückgegriffen wird?

Wie ist diese seltsame Erziehungskultur überhaupt entstanden? In der Psychotherapie gib es die Erkenntnis, dass alle Verhaltensmuster, und wenn sie einem noch so unnütz und lebensfeindlich vorkommen, irgendwann mal ihren notwendigen Sinn hatten. Dass sie oft als Schutzmechanismus entstanden sind, in einer Zeit, in der man noch keine anderen Handlungsmöglichkeiten hatte. Und dass es erst mit der Wertschätzung derselben, obwohl sie ihren Sinn längst verloren haben, möglich wird, sie loszulassen. Die wenigsten Dinge sterben, bevor sie nicht ausreichend wertgeschätzt wurden. Lässt sich diese Erkenntnis auch auf die gesellschaftliche Entwicklung beziehen? Welche inneren und äußeren Umstände haben es notwendig gemacht, dass eine solch seltsame Kultur der Erziehung und der Beschulung entstanden ist? Kann ich Verständnis, ja vielleicht sogar Wertschätzung dafür entwickeln, sosehr ich diese Kultur auch gleichzeitig in ihrer heutigen Form ablehne?

Von einer solchen Wertschätzung bin ich noch weit entfernt. Doch es hilft auch nicht, etwas zwanghaft wertschätzen zu wollen, was ich einfach nicht wertschätzen kann, denn jetzt sind wir wieder in dem bereits beschriebenen Teufelskreis des alten Denkens gefangen. Sowohl die neue Kultur, als auch die neue innere Haltung kann nicht »gefordert«, »erzogen«, »belehrt« oder »durchgesetzt« werden, denn all dies sind ja Begriffe und Handlungsweisen eben jener Kultur, die wir hinter uns lassen wollen. Kann es sein, dass diese neue Haltung und Kultur nur selber und aus sich heraus wachsen und sich bilden kann, genauso wie ein Mensch nur selber wachsen und sich bilden kann? Und kann es sein, dass Wertschätzung, Interesse und Verständnis den Boden bilden, aus dem die neue Kultur und Haltung wachsen kann?

Und vielleicht wird durch dieses Interesse auf eine seltsame Weise innerlich Raum frei und es entwickelt sich, neben der weiterhin vorhanden Wut und Ablehnung, ein zartes, immer tieferes Verstehen und eine leise Wertschätzung, die der destruktiven und in die Vergangenheit gerichteten Wut etwas hinzugibt, was sie in eine nach vorne gerichtete Gestaltungskraft verwandelt.

Es ist mir ein großes Anliegen die Wut zu wecken, die entsteht, wenn wir erkennen, wie sehr wir in unserer Kultur die Würde der jungen Menschen verletzen, durch die Missachtung der Wichtigkeit und Zartheit ihrer Bedürfnisse und Wünsche. Doch es ist mir ein genauso großes Anliegen die Trauer zu fühlen, die entsteht, wenn wir entdecken, wie sehr wir die Würde der älteren Menschen verletzen, indem wir den Wert ihrer Erfahrungen missachten. Erst durch beides zusammen entsteht die Heilkraft, die Wunden schließen und Wunder geschehen lassen kann.

Das Wort Adultismus hat in seiner Einfachheit und Klarheit die Kraft, die so notwendige Wut vieler Menschen zu wecken, doch birgt es die Gefahr, in dieser Ablehnung stecken zu bleiben. Durch seine Eigenheit impliziert es, dass wir nur mit dem Adultismus aufhören müssen und verdeckt damit, dass wir in den allermeisten Fällen nicht wissen, wie wir den Umgang zwischen den Generationen gestalten wollen.

Ich habe die Hoffnung, dass die Perspektive des Adultismus nicht als Endpunkt der Erkenntnis betrachtet wird, sondern als Anfangspunkt, der den Zugang zu weiteren Perspektiven eröffnet und bei dem die notwendige, oft anstrengende und genauso oft wunderschöne Suche nach neuen und stimmigen Umgangsformen erst beginnt. ◼

Der Artikel ist 2018 in Heft 81 – Sprache – Sprechen, Lesen, Schreiben erschienen.

Emil und Juli sind beide seit einiger Zeit als Wanderstudenten der Wanderuni unterwegs. Seit diesem Jahr üben sie sich gemeinsam in weltgestaltender Philosophie
› wanderuni.de
› freie-lehrerausbildung.de

  1.  Die Forderung findet sich in: Braunmühl; Antipädagogik, letzte Seite
  2.  Man könnte dies den »Rumpelstilzchen-Mechanismus« nennen.
  3. Angestoßen wurden diese Gedanken durch verschiedene Gespräche, den Artikel »Weil du jünger bist als ich« (erschienen in: Oya, 45/2017) sowie die Internetseite des Naiv-Kollektivs: www.naiv-kollektiv.org
  4.   Maria Montessori: Kinder sind anders, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1987
  5.   Mit dem Begriff »Bedürfnis« sind für mich die Begriffe »Wunsch« und »Willensimpuls« sehr eng verknüpft, die ich im Folgenden auch immer wieder verwende.
  6. Hier liegt eine typische Verwechslung vor, die auch oft bei den Themen Rassismus oder Sexismus geschieht. Die Gleichheit der Menschen liegt nicht in der realen Gleichheit ihres Seins oder ihrer Fähigkeiten, sondern in der Gleichwichtigkeit ihrer Bedürfnisse und Willensimpulse. So wie jüngere und ältere Menschen nicht gleich sind, sind eben auch Menschen unterschiedlichen Geschlechts oder Menschen unterschiedlicher Kulturen nicht gleich. Auf diese Verwechslung wurde schon von verschiedenen Denkerinnen und Denkern hingewiesen. Bei Peter Singers politischer Perspektive heißt das dann »Gleichwichtigkeit der Interessen«, bei Marshall Rosenbergs sprachlich-kommunikativer Blickrichtung sind es die »Bedürfnisse, die den ursprünglichen und fundamentalen Kern einer gewaltfreien Kommunikation bilden« und Jesper Juul spricht innerhalb seines pädagogischen Ansatzes von der »Gleichwürdigkeit im Gegensatz zur Gleichheit«, wenn er verdeutlichen will, dass die Anliegen des Kindes, trotz des unterschiedlichen Erfahrungsreichtums, gleich viel zählen.
  7.  Weil Kinder oft noch einen unverfälschteren Zugang zu ihren Bedürfnissen haben, kann es uns in unserer heutigen Kultur vorkommen, dass Kinder ihre Bedürfnisse besser kommunizieren können als viele Erwachsene. Dass Menschen in der heutigen Kultur zunehmend den Zugang zu ihren Bedürfnissen und ihrer Echtheit verlieren, ist jedoch kein Argument für die häufig auftretende Vorstellung, dass Kinder grundsätzlich besser oder direkter ihre Bedürfnisse kommunizieren können. Prinzipiell lernen Menschen durch den Zuwachs an Erfahrungen immer mehr Wege kennen, ihre Bedürfnisse mitzuteilen oder selber zu erfüllen. So spürt das schreiende Baby wahrscheinlich sehr genau seinen Hunger, doch weiß es weder, dass die Milch seiner Mutter diesen Hunger befriedigen kann, noch kann es die dafür notwendigen Handlungen ausführen und schließlich auch nicht präzise sprachlich ausdrücken, dass es Hunger hat. Es kann nur schreien und das reicht zum Glück in den meisten Fällen, dass die Mutter weiß, was es braucht.
  8. Natürlich gibt es noch andere Aspekte der Unterschiedlichkeit, die nicht oder erst auf den zweiten Blick mit dem Erfahrungsreichtum zusammenhängen. Dazu gehören der Intuitionsreichtum, die Unvoreingenommenheit und die im positiv verstandenen Sinne Naivität der Kinder, auf die z.B. auch der Name des »Naiv-Kollektivs« hinweist. Hier schärft die anti-adultistische Perspektive den Blick und macht klar, wie viel ältere Menschen eben auch von Jüngeren lernen können.
  9.  Die Weigerung anzuerkennen, dass Tod und Leiden zum Leben gehören und der verzweifelte Glaube an den »einen richtigen Weg« verhindert z.B. immer wieder bei Veganerinnen, zu erkennen, dass es diesen einen, keinen Leid erzeugenden Weg nicht gibt und dass die Pauschalentscheidung zum Veganismus zwar in vielerlei Hinsicht ein sinnvoller Schritt ist, letztendlich aber eine unzulängliche Vereinfachung und nur eine erste grobe Annäherung ist, hinsichtlich der Frage, wie eine lebens- und lebendigkeitsförderliche Ernährung aussehen könnte.
  10. Mein Sprachspieler wittert seine Chance: »Urteile sind wie Orgasmen. Sie werden besser, wenn man sie eine Weile zurückhält.«
  11. Dass dies kein Grund ist, den Schrank aus dem Fenster zu werfen, ist hoffentlich einleuchtend. Bei der Frage, wo der Schrank denn nun dann stehen kann, tut sich jedoch ein ganz neues Fass auf und da mach ich jetzt lieber schnell wieder den Deckel drauf. Nur ein paar grobe Gedankenrichtungen will ich benennen: Zum einen glaube ich, ist es wichtig, sich bewusst zu sein, wann wir sprachlich-gedanklich generalisieren. Ein paar Absätze vorher findet sich das in Klammern gesetzte Wort »grundsätzlich«, als ein kleines Beispiel dafür, wie diese Bewusstheit sich sprachlich niederschlagen kann. Eine andere Gedankenrichtung führt dahin, dass es auch darauf ankommt, wie wir Begriffe begreifen und dass es vielleicht eher darauf ankommt, das Herz der Begriffe zu verstehen, statt ständig nach starren Grenzen zu suchen oder diese anzufechten. (Vertiefende Gedanken hierzu finden sich in dem Artikel »Trennschärfe vs. Bestimmtheit« von der Dorfuniversität Dürnau. www.dorfuniversitaet.de, www.researchgate.net/profile/Rolf_Reisiger ).
  12.   Zusätzlich geht die verwendete Polemisierung auch darüber hinweg, dass Menschen selber entscheiden, ob sie Nazi oder Polizist werden. Darum weist so ein Satz zwar berechtigter Weise auf tiefer liegende Widersprüche in solchen neuen Begriffen und Kategorien hin, vergisst aber den Erkenntnisfortschritt, der hier gewonnen wurde und die Wertschätzung desselben.
  13.   Dieser Text ist Ausdruck dieser Suche danach, wie ein solches neues Denken und Schreiben gelingen könnte. Ein Denken, das nicht mehr etwas Böses konstruiert, dem dann die Schuld zugeschoben wird, sondern das vor allem auf Nicht-Stimmiges hinweist. Das nicht Veränderung fordert, sondern eher Bewusstheit fördert. Ich weiß, dass auch dieser Text garantiert in vielerlei Hinsicht in alten Mustern verhaftet bleibt. Es ist ein unsagbar langsames und oft auch unbeholfenes Bemühen darum, eine neue, stimmige Haltung und entsprechende Formen zu finden. Vielleicht liegt die Bedeutung dieses Textes sogar eher in der Selbstermächtigung und dass ich mich selbst und das Ringen um dieses Neue so ernst nehme, dass ich mich trotz der Unbeholfenheit auf diesen Weg begebe und mein Bestes versuche. Wem immer Weiteres, Ideen, Möglichkeiten einfallen; ich freue ich mich davon zu erfahren.
  14. Fronten, die der »Adultismus« trotz und durch seine Bemühungen, die Aufteilung in Kinder und Erwachsene zu dekonstruieren, durch die Eigenheit seiner Perspektive immer wieder aufbaut. Allein schon durch seinen Namen (Adult= der Erwachsene), sind die Verursacher und Schuldigen, nämlich »die Erwachsenen« klar benannt, denen dann doch immer wieder »die jungen Menschen« (und was heißt das anderes, als »die Kinder«) gegenübergestellt werden.