Verfahrenseinstellung in Meißen – eine juristische Sensation?
Text: Lothar Kittstein
In Freilernerkreisen macht seit kurzem ein Beschluss des Amtsgerichts Meißen vom 8.6.2018 die Runde, der auf den ersten Blick sensationell scheint: Das Bußgeldverfahren gegen eine Freilerner-Familie wurde ohne jegliche Auflagen oder sonstige Einschränkungen eingestellt. In der Vergangenheit sporadisch erfolgte Verfahrenseinstellungen hatten meist besondere Gründe, aus denen heraus das Gericht die Schulpflichtverletzung als nicht so gravierend ansah: z.B. eine Autismus-Diagnose des betroffenen Kindes oder sonstige mildernde familiäre Umstände. Der Meißener Beschluss ist zumindest die erste bekanntgewordene Einstellung eines Bußgeldverfahrens, bei der grundsätzliche rechtliche Bedenken gegen die Schulbesuchspflicht angemeldet werden und eine vergleichsweise ausführliche Begründung vorliegt. Zu Recht erregt der im Netz kursierende Text deshalb Aufsehen, und einzelne Freilerner erklärten auf Facebook, das Dokument sofort den im eigenen Fall zuständigen Mitarbeitern von Jugendamt oder Schulamt in die Hand drücken zu wollen. Mit dem Meißener Beschluss verknüpfen sich also Hoffnungen auf einen juristischen Wandel bzw. eine positive Wendung in anderen Fällen. Deshalb sollen hier die Äußerungen des Gerichts im Detail analysiert, auf ihre Auswirkungen und auf ihre Verwertbarkeit hin geprüft werden.
Vorweg sei dabei zweierlei betont: Erstens erklärt das Meißener Gericht das Bußgeld, um das es ging, nicht für unzulässig – die betroffene Familie hat nicht »Recht bekommen« oder ist »freigesprochen worden«! Das Gericht meldet lediglich »rechtliche Bedenken« an und stellt das Verfahren deshalb ein. Zweitens sei darauf hingewiesen, dass hier kein Jurist schreibt, sondern ein in schulrechtlichen Angelegenheiten einigermaßen belesener Laie. Es mag sein, dass Verwaltungs-, Verfassungs- oder Schulrechtler vieles anders beurteilen würden.
Interessant ist zunächst ein Detail, das sich am Ende des Textes befindet: Ganze 39 Minuten Zeit, so die Richterin, sind am Amtsgericht Meißen pro Bußgeldverfahren vorgesehen. Das wirft ein Schlaglicht auf die extremen Bedingungen, die für Freilerner und die für sie zuständigen Richter gelten. Selten haben Betroffene die Zeit, ihre für die meisten Menschen schwer verständliche Haltung gründlich zu erklären und ihre Lage ausführlich zu schildern – zugleich stehen Richter vor der Herausforderung, unter Zeitdruck über eine gänzlich ungewohnte Konstellation zu urteilen: eine Schulverweigerung aus prinzipiellen Gründen und nicht aus erzieherischem Versagen und familiärer Zerrüttung heraus. Hinzu kommt, dass Juristen in der Ausbildung tendenziell lernen, nicht kreativ zu sein, sondern einen vorgegebenen Fall auf ein ebenso vorgegebenes »richtiges« Lösungsschema zurückzuführen. Das hat auch seine guten Gründe, denn welcher Bürger, der staatliche Willkür verabscheut, möchte sich schon einer allzu kreativen Justiz gegenübersehen? So erklären sich auch die vielen Verurteilungen von Freilernerfamilien in Bußgeldverfahren: Die Schulpflicht scheint selbstverständlich, das Bundesverfassungsgericht hat sie abgesegnet, da geht man auf Nummer sicher und bestätigt das Bußgeld. Man darf ja nicht vergessen, dass es noch einen anderen Grund gibt, warum Amtsrichter sich ungern mit Entscheidungen aus dem Fenster lehnen, die von der herrschenden Meinung abweichen: Ein Urteil, das in der nächsten Instanz kassiert wird, kann negative Folgen für die Karriere haben. Eine bloße Verfahrenseinstellung birgt in diesem Sinne zwar weniger Risiken. Dennoch exponiert sich die Meißener Richterin auch damit.
Die Begründung: Zur Grundrechtsproblematik
Der Beschluss meldet prinzipiell drei Arten von Zweifel an: verfassungsrechtlich, pädagogisch und europarechtlich. Das erste Thema dürfte allen Freilernern vertraut sein: Die Schulpflicht als Schulanwesenheitspflicht greift in die vom Grundgesetz (namentlich Art. 2 und Art. 6) garantierten Grundrechte ein. Das Meißener Gericht erwähnt außerdem noch Art. 12 GG und Art. 101 der sächsischen Landesverfassung, was in diesem Bundesland besonders einschlägig ist, weil die Verfassung nicht nur das Erziehungsrecht der Eltern garantiert, sondern dieses Recht explizit zur Grundlage des Schulwesens bestimmt. (Solche Formulierungen finden sich nicht in allen Landesverfassungen, ein weiteres Beispiel wäre die nordrhein-westfälische in Art. 8.) Mit Art. 2 GG bezieht sich die Richterin auf die allgemeine Handlungsfreiheit bzw. auf das Recht der freien Persönlichkeitsentfaltung, mit Art. 6 benennt sie das Elternrecht bzw. den Schutz von Ehe und Familie. Ungewöhnlicher ist der Verweis auf Art. 12 GG, in dem es um die freie Wahl des Berufs bzw. der Ausbildungsstätte und das Verbot von Zwangsarbeit geht. Das Gericht scheint hier anzudeuten, dass Zwangsbeschulung einer erzwungenen Berufsausbildung oder einer erzwungenen Arbeitstätigkeit gleichkommt, was juristisch keine Selbstverständlichkeit darstellt, gelten diese Dinge doch im üblichen Sprachgebrauch als unterschiedlich. Es ist anzunehmen, dass die Mehrheit der Juristen die Heranziehung von Art. 12 hier als fehlerhaft ansehen wird.
In aller Regel lösen Juristen den Widerspruch zwischen Grundrechten der Bürger und verfassungsmäßig garantierten Rechten des Staats nach dem Prinzip der sogenannten praktischen Konkordanz auf. Bei der Schulpflicht heißt das, dass der Staat seinen indirekt aus Artikel 7 hergeleiteten Erziehungsauftrag im Bereich der Schule, die Eltern ihren Erziehungsauftrag im häuslichen bzw. außerschulischen Bereich wahrnehmen, beide teilen sich also gewissermaßen das Recht auf die Erziehung des Kindes, was für den Laien zunächst wirkt wie ein durchaus fairer Kompromiss nach dem Motto: »Wir machen halbe halbe«. Diese elegante Auflösung ist auch höchstrichterlich abgesegnet. Die wenigen Juristen, die darauf hinweisen, dass das Verhältnis zwischen Elternrecht und Staat komplizierter zu fassen sei, bilden eine kleine Minderheit. Umso bedauerlicher ist es, dass die Richterin in Meißen zwar Zweifel am gängigen verfassungsrechtlichen Lösungsschema anmeldet, jedoch nicht genauer darauf hinweist, wie sie diese Zweifel begründen bzw. welche andere Lösung sie wählen würde. Denn dass ein verfassungsrechtlicher Konflikt zwischen Art. 2, Art. 6 einerseits und Art. 7 GG andererseits besteht, der methodisch sauber aufgelöst werden muss, daran kann juristisch keinerlei Zweifel bestehen. Für eine Verfahrenseinstellung ist es zwar nicht nötig, die Zweifel des Gerichts verfassungsrechtlich genauer zu begründen oder gar eine alternative Lösung vorzuschlagen – angesichts der Ungewöhnlichkeit des Vorgangs hätte man sich jedoch zumindest detailliertere Anmerkungen zur verfassungsrechtlichen Problematik gewünscht, über die es inzwischen ja auch zwei neuere juristische Dissertationen gibt (Tobias Handschell, 2012; Julian von Lucius, 2017). Die Ausführungen dazu nehmen in der vierseitigen Begründung des Gerichts gerade einmal siebeneinhalb Zeilen ein.
Die Begründung: Pädagogik der Fernschulen und Europarecht
Ungewöhnlicher im Zusammenhang der Diskussion über die Schulpflicht ist die Argumentation mit den Fernschulen, kombiniert mit europarechtlichen Bedenken. Hierfür nimmt sich die Begründung wesentlich mehr Raum. Zunächst erklärt die Richterin, dass Online-Nachhilfeanbieter nachweislich »vielfach erfolgreicher« seien als öffentliche Schulen. Sie beruft sich auf einen »technologischen Wandel«, den sie zugleich allerdings auch einen »pädagogischen Wandel« nennt, der Zweifel an der Gültigkeit der Schulpflicht im Sinne einer Schulhausanwesenheitspflicht aufkommen lasse. Sie beklagt zweitens, dass sächsischen Kindern und Jugendlichen der »rechtssichere« Zugang zu internationalen Online-Schulen »zwecks Erfüllung der Schulpflicht« verwehrt sei, was europarechtliche Bedenken auslöse, weil drittens ohne einen solchen rechtssicheren Zugang »europäische allgemeinbildende Schulen mit Fernzugang aus Sachsen praktisch ausgeschlossen« seien.
Die technologische Entwicklung, auf die sich das Gericht zunächst bezieht, dürfte vor allem im Bereich der Fernlehre per Internet zu suchen sein. Es ist jedoch zweifelhaft, ob dies im Kontext der deutschen Diskussion um die Schulpflicht überzeugen kann, solange die geltende Rechtsprechung den Aspekt der Sozialisierung durch regelmäßigen Kontakt mit Gleichaltrigen ins Zentrum rückt. Diesen allgemein angenommenen positiven Effekt normaler Schulen können die Fernschulen nicht bieten. Indem die Meißener Begründung argumentiert, dass in den Fernschulen auch Abschlüsse erreicht werden können, verkennt sie, dass in der juristischen Diskussion die Frage der akademischen Inhalte und der Zertifikate bei der Begründung der deutschen Schulpflicht eine bloße Nebenrolle spielt. Tatsächlich scheint es auch mit Blick auf die Bedeutung von Onlineschulen außerhalb Deutschlands fraglich, ob von einer »technologischen, aber auch pädagogischen Entwicklung« von derartiger gesellschaftlicher Bedeutung gesprochen werden kann, dass es nötig wäre, eine grundsätzliche rechtliche Neubewertung der Schulpflicht vorzunehmen. Zumindest hierzulande scheint der Nachhilfemarkt vorrangig noch immer nach dem herkömmlichen Prinzip persönlicher Unterweisung entweder im Nachhilfeinstitut oder zu Hause organisiert. Auch außerhalb Deutschlands dürfte ein verschwindend geringer Teil der Schüler rein online beschult werden. Noch immer wird Nachhilfe fast ausschließlich als Ergänzung zur allgemein als notwendig angesehenen »normalen« schulischen Unterrichtung nachgefragt.
Das Argument mit den Fernschulen wird, indem die Richterin sodann den fehlenden Marktzugang internationaler Fernschulen in Sachsen moniert, europarechtlich gewendet. Sinn macht eine solche Argumentation im Hinblick auf die Liberalisierung des EU-Binnenmarkts, dessen Regeln vorsehen, dass Anbieter von Dienstleistungen – private Fernschulen sind ja solche – diskriminierungsfrei innerhalb der ganzen EU tätig werden dürfen.
Einzuwenden wäre hier, dass doch niemand sächsische Schüler daran hindert, an Programmen europäischer Fernschulen teilzunehmen – bis auf die Tatsache, dass sie aufgrund der Schulanwesenheitspflicht möglicherweise zu wenig Zeit dafür bzw. keine Lust dazu haben. Es scheint jedoch fraglich, ob vom deutschen Staat erwartet werden kann, dass er sicherstellt, dass deutsche Schüler motiviert genug sind, um Dienstleistungen privater ausländischer Schulanbieter wahrzunehmen. Mit einem ähnlichen Argument könnte eine Firma, die Onlinespiele anbietet, klagen, dass sächsische Schüler aufgrund der Schulanwesenheitspflicht und der Notwendigkeit, nachmittags Hausaufgaben zu machen und früh schlafen zu gehen, faktisch von einer extensiven Wahrnehmung ihrer Spiele ausgeschlossen bleiben und deshalb, sagen wir: beim Ballerspiel Fortnite nur ungenügende Erfolge erzielen. Von einer europarechtlich relevanten Wettbewerbsverzerrung durch die deutsche Schulanwesenheitspflicht kann ebenfalls keine Rede sein, denn die bestehende Schulanwesenheitspflicht gewährt ja deutschen Fernschulen keinerlei Vorteil gegenüber ausländischen Anbietern.
Unzweifelhaft besteht ein Marktzugang für europäische Fernschulen in Sachsen. Man darf annehmen, dass Fernschulen auch in anderen Ländern nur eine Marktnische besetzen und dass die Nachfrage aufgrund der Dominanz staatlicher Schulen auch dort stark eingeschränkt ist. Auf einer grundsätzlicheren ordnungspolitischen Ebene könnte man dies zwar als unzulässige Subventionierung und Privilegierung eines Marktteilnehmers, nämlich der traditionellen, staatlich finanzierten Schulen, angreifen. Dies scheint jedoch angesichts der geltenden Rechtsprechung auf deutscher verfassungsrechtlicher wie auch auf europäischer Ebene aussichtslos. Die Bereitstellung einer Bildungsinfrastruktur ist genau wie die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit eine hoheitliche Kernaufgabe und verfassungsrechtlich fixierte Pflicht des deutschen Staats, für deren Erfüllung er nicht belangt werden kann. Bereiche, in denen das anders aussieht, wie etwa Rettungsdienste oder Telekommunikations- oder Transportdienstleistungen, wo der Marktzugang bekanntlich seit den 90er Jahren sukzessive liberalisiert wurde, sind mit den beiden genannten nicht vergleichbar.
Im Fall der Meißener Begründung bleibt aufgrund der Kürze des Textes ohnehin unklar, ob die Richterin so weit gehen würde, sich auf eine grundsätzliche ordnungspolitische Diskussion in diesem Sinne einzulassen. Juristisch bleibt deshalb ihr Argument vom »Zugang europäischer Bildungseinrichtung in die sächsische Bildungslandschaft« schwammig und in seiner Qualität schwer zu greifen. Nicht zufällig werden zwar Zweifel geäußert, ob die Situation »europarechtskonform« sei, es wird aber keinerlei konkrete Rechtsnorm auf EU-Ebene genannt, gegen die das sächsische Schulgesetz verstoßen würde. Fachlich vermag die europarechtliche Diskussion des Meißener Gerichts deshalb nicht zu überzeugen.
Auswirkungen und Verwertbarkeit der Meißener Entscheidung
Was die unmittelbaren rechtlichen Folgewirkungen der Verfahrenseinstellung angeht, so sind diese zunächst gleich Null. Die Einstellung eines Verfahrens nach §47 OwiG ist möglich, wenn ein Gericht die Ahndung nicht für geboten hält und die Staatsanwaltschaft zustimmt oder wenn die Staatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung nicht teilnimmt. In beiden Fällen ist ein Einspruch gegen die Einstellung unwahrscheinlich. Damit ist dieses Verfahren höchstwahrscheinlich beendet, was im Sinne der Familie ja auch zu begrüßen ist. Nochmals sei außerdem betont, dass hier kein »Freispruch« vorliegt. Dass die Richterin eine Ahndung nicht für geboten hält, ergibt sich vielmehr aus einer Mischung von rechtlichen Zweifeln und Zeitnot. Andere Amtsgerichte werden durch die Entscheidung, die, was den Kern der Sache angeht, ja eigentlich gar keine Entscheidung ist, rechtlich in keiner Weise gebunden. Auch in der juristischen Fachdiskussion dürfte das Urteil kein großes Echo finden. Dafür bleibt die Erörterung der Grundrechtsproblematik zu rudimentär, während der Verweis auf die technologischen Möglichkeiten der Online-Fernschulen zwar einen weitergehenden Ansatzpunkt bietet, den aber die große Mehrheit der deutschen Juristen, die bis hinauf nach Karlsruhe ja gebetsmühlenartig den Stellenwert der sozialintegrativen Wirkung der Schulpflicht betonen, nicht akzeptieren dürfte.
Ist die Entscheidung also letztlich doch nur eine juristische Marginalie, aus der sich wenig machen lässt? Dagegen ist zunächst zu sagen, dass hier erstmals schwarz auf weiß ein deutsches Gericht die gängige Lösung der Grundrechtsproblematik (Art. 2/Art. 6 versus Art. 7 GG) grundsätzlich anzweifelt. Die Richterin weist darauf hin, dass sie eine Überprüfung der angemeldeten Bedenken beim Bundesverfassungsgericht und beim sächsischen Landesverfassungsgericht für sinnvoll hält. Ein solches Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht kann jeder deutsche Richter in Gang setzen, der ein Gesetz als möglicherweise verfassungswidrig ansieht. Ermutigend ist, dass aus dem Text hervorzugehen scheint, dass die Richterin grundsätzlich die Voraussetzungen für ein solches Verfahren als erfüllt ansieht. Vor allem Opportunitätsgründe scheinen dafür ausschlaggebend zu sein, dass sie keine Normenkontrolle anstrebt. Insofern bindet die Meißener Entscheidung zwar keine anderen Gerichte und bleibt unmittelbar juristisch folgenlos. Wer in einem Verfahren auf sie verweist, könnte dennoch andere Richter dazu ermutigen, die von Freilernern angemeldeten verfassungsrechtlichen Zweifel nicht gleich – unter Verwendung der üblichen juristischen Textbausteine – als unbegründet abzutun. Zwar existiert, wie angedeutet, bereits Fachliteratur von Juristen aus dem universitären Bereich. Richter tendieren jedoch dazu, diese Schriften, gerade wenn es sich um Dissertationen handelt, als akademisch abzutun. Eine Gerichtsentscheidung – besonders wenn sie nicht auf die Umstände des Einzelfalls, sondern auf grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken abstellt – wirkt anders.
Insofern ist die Verfahrenseinstellung in Meißen durchaus ein brauchbarer, zu Recht lange ersehnter Baustein für die Argumentation vor Gericht. Familien, denen ein Verfahren bevorsteht, dürfen sich ermutigt fühlen, weil Meißen gezeigt hat, wie leicht es für deutsche Richter bereits unter den herrschenden juristischen Bedingungen ist, Freilernern ein Bußgeld zu ersparen. Ob möglicherweise grundsätzlich die Verteidigungsstrategie in Bußgeldverfahren jetzt mehr auf Einstellung als auf Freispruch ausgerichtet werden sollte, ist allgemein schwer zu sagen; zu sehr kommt es auf den Einzelfall an. Wie auch immer: Der Nutzen der Urteils ist vorerst weniger ein juristischer als vielmehr ein psychologischer und verhandlungstaktischer.
Dürfen also von Behördenkonflikten betroffene Freilerner damit rechnen, aus der Meißener Entscheidung im Umgang mit den für sie zuständigen Gerichten, Jugendämtern und Schulbehörden konkreten Gewinn zu ziehen? Eine gewisse Skepsis ist zunächst geboten. Mitarbeiter von Jugendämtern werden nicht zu Unrecht einwenden, dass sie für den schulrechtlichen Bereich nicht zuständig seien, sondern höchstens für familienrechtliche Fragen bzw. für das Kindeswohl im Einzelfall. Mitarbeiter von Schulämtern wiederum dürften sich ungern in die grundsätzliche juristische Diskussion vorwagen, in der sie sich einerseits gar nicht auskennen und die andererseits – wenn sie diese Diskussion denn einmal ernsthaft führen – droht, ihr ganzes Aufgabengebiet zu untergraben. Hier wird es auf Fingerspitzengefühl in der Kommunikation ankommen. Juristen wiederum tendieren meist zum Konservatismus, sie werden mit Blick auf die Grundrechtsproblematik vor allem bemerken, dass diese doch höchstrichterlich als gelöst gelte und also nicht erneut geprüft werden muss. Richter werden meist sagen, dass es eben »nur« ein Amtsgericht ist, das sich eines unbequemen Falles rasch entledigen wollte, weil Zeitdruck herrscht, was zwar jeder Kollege verstehen wird, ohne sich deshalb aber vom Ergebnis unbedingt überzeugen zu lassen. Tatsächlich fallen im Text ja viele Flüchtigkeitsfehler auf – ein lebendiges Zeugnis von dem immensen Arbeitspensum in Meißen, das der Vorsitzenden selbst als Argument dient. An deutschen Amtsgerichten wird im Akkord gearbeitet!
Gerade dies führt jedoch zu der Frage, was die Richterin eigentlich zu ihrer ungewöhnlichen Stellungnahme bewogen hat. Denn zweifellos macht ein Amtsgericht in Deutschland, wenn es um die Schulpflicht geht, sich die Sache deutlich einfacher, wenn es einfach ein Bußgeld verhängt oder das Verfahren wegen mildernder Umstände im konkreten Fall möglichst geräuschlos einstellt. Im Text fällt eine Passage zu den Nachhilfeanbietern auf, in der die Richterin sich selbst ins Spiel bringt. Es zeige »auch die Erfahrung der Vorsitzenden [also der Richterin selbst] und vieler Eltern« bezüglich Online-Nachhilfeanbietern, dass diese »vielfach erfolgreicher sind als öffentliche, aber auch erfolgreicher als genehmigte Ersatzschulen«. Offenbar hat die Richterin eigene Erfahrungen mit der mangelnden Leistungsfähigkeit öffentlicher Schulen bzw. umgekehrt mit der Leistungsfähigkeit von Onlineschulen gemacht. Ob es dabei um eigene Kinder geht oder ob sie diese Erfahrungen mittelbar bei fremden Kindern gemacht hat, bleibt offen, ist aber auch zweitrangig. Jedenfalls scheinen sich die Erfahrungen auf das schulische Lernen im engeren Sinne zu beziehen, also auf die Stoffvermittlung, deshalb steht dieser Aspekt auch im Zentrum der Argumentation, während die beliebte juristische Thematik der Sozialisierung durch Schule völlig fehlt. Dass eine solche persönliche Erfahrung vorliegt, würde auch erklären, warum ein so auffälliger Schwerpunkt auf dem Thema der Onlineschulen liegt, während das verfassungsrechtliche Thema nur angerissen wird. Zumindest darf man irgendeine Art persönlicher Sympathie oder Empathie für die Sache, die Freilerner vertreten, vermuten. Das würde auch die juristisch eigentlich arg zusammengestückelte Argumentation erklären, die bei der angeblichen neuartigen »technologischen Realität« internationaler Fernschulen beginnt und bei dem vermeintlichen europarechtlichen Skandalon des fehlenden Marktzugangs dieser Fernschulen in Sachsen landet. Hier wollte jemand, so der Eindruck, einer sympathischen Familie gerne Brücken bauen.
Mit dieser Hypothese lässt sich auch die Frage, worin die Verwertbarkeit der Meißener Verfahrenseinstellung liegt, besser beantworten: Angesichts der emotionalen Aufladung des Themas auch bei vielen Profis in den Jugendämtern, Schulämtern und Gerichten darf man bezweifeln, dass die Einstellung des Verfahrens in Meißen, wenn man einfach nur das Dokument jemandem vorlegt, das Geringste bewirkt. Voraussetzung dafür wäre, dass man es mit Leuten zu tun hat, die bereits eine gewisse Offenheit für das Thema mitbringen. Deshalb ist der interessante Punkt an der Meißener Entscheidung nicht ihre juristische Argumentation, die weder neu noch fachlich zwingend ist, sondern die Tatsache, dass sich eine Richterin hier offenbar aus persönlicher oder zumindest mittelbarer Erfahrung im Freundes- oder Bekanntenkreis geöffnet hat. Die Lehre, die sich daraus ziehen lässt, ist eine, die viele Familien in Behördenkonflikten bereits machen: Es kommt darauf an, dem Gegenüber einen persönlichen Zugang zum Thema, eine Empathie jenseits der gängigen Denkschablonen zu ermöglichen. Es kommt darauf an, irgendeinen Schlüssel zu finden, egal über welchen Teilaspekt des Themas, der es den Amtspersonen ermöglicht, sich in die Lage der Familien hineinzuversetzen – die Perspektive zu wechseln. Von einer solchen Empathie zeugt auch im Meißener Dokument die Erwähnung der »Belastung« für die betroffene Mutter, die ohne Anwalt vor Gericht auftrat.
Bei allen Kontakten zu Behörden sind Anknüpfungspunkte zu suchen, durch die man es den dort Handelnden möglich macht, sich empathisch in die Situation der jeweiligen Freilerner hineinzuversetzen. Der Schlüssel dazu kann überall liegen. Manchmal wird es ein bestimmtes Wort sein, eine juristische, politische oder pädagogische Vokabel, die man gebrauchen muss – oder die man eben nicht gebrauchen darf, weil sie ein Reizwort darstellt. Manchmal wird es etwas ganz anderes sein, das man im Kontakt mit dem Gericht oder dem Behördenmitarbeiter herausfinden muss. Und manches Mal könnte das eben auch ein Urteil aus Meißen sein, das man im richtigen Moment, begleitet von den richtigen Worten, auf den Tisch legt.
Insofern ist die Verfahrenseinstellung zunächst weder als Sensation noch als Bagatelle zu werten. Die Schulpflicht und ihre juristische Begründung bilden eine gewaltige Mauer. In dieser Mauer hat sich durch die Entscheidung von Meißen ein Haarriss gebildet, nicht mehr. Aber wie jeder Techniker weiß: In einem System, das unter Druck steht, können Haarrisse gefährlich werden. Falls es gelingt weitere, ähnliche Entscheidungen herbeizuführen, könnte sich die juristische Situation qualitativ ändern. Und genau dabei kann die Meißener Entscheidung, vorerst »nur« psychologisch, helfen. Bis dahin zeigt das Meißener Beispiel vor allem, dass das Zustandekommen von Entscheidungen vor Gericht von sehr subjektiven Faktoren abhängt, die schwer zu kalkulieren sind. Zugleich aber sieht man, dass Prozesse selbst im Bereich der Bußgelder, wo sich Fachleute aus der Freilerner-Szene bislang außer Verurteilungen fast nichts anderes vorstellen konnten, bereits jetzt ganz andere Ausgänge möglich sind. Das sollte alle Familien, die so couragiert sind, gegenüber Ämtern und Gerichten offen für das Recht ihrer Kinder auf Bildungsfreiheit einzustehen, ermutigen. ◼
Lothar Kittstein
23. März 2019 @ 16:13
Ergänzend möchte ich noch etwas anmerken. Nach Auskunft eines Anwalts, die ich selbst nicht verifizieren kann aber für sehr plausibel halte, enthält das Urteil noch einen entscheidenden handwerklichen Fehler, der es in Augen vieler Juristen zu einem schlechten Referenzpunkt macht: Hat ein Gericht grundsätzliche Zweifel daran, ob die einschlägigen Gesetzesnormen, die bei einem Fall heranzuziehen sind, verfassungsgemäß sind, DARF es das Verfahren nicht einstellen, sondern es MUSS die Frage im Rahmen der Normenkontrolle der zuständigen Instanz (das dürfte hier das Bundes- oder Landesverfassungericht sein, nehme ich an) vorlegen. Die Einstellung selbst ist also mit der hier vorliegenden Begründung eklatant fehlerhaft.