Schriftlose Sprachen, lesende Analphabeten und kulturelle Vielfalt

Text: Nina Downer, Ausgabe Nr. 81

Von den ca. 7.000 Sprachen, die derzeit weltweit gezählt werden, existiert fast die Hälfte nicht in schriftlicher Form. Es sind Sprachen, die ausschließlich mündlich verwendet werden.

Diese schriftlosen Sprachen beinhalten das Wissen von Generationen von Vorfahren, das hauptsächlich in Form von Geschichten, Mythen, Liedern und Ritualen weitergegeben wird. In vielen solcher Kulturen ist der „Geschichtenerzähler“ oder „Geschichtenbewahrer“ eine wichtige Berufung, die eine besondere soziale Stellung mit sich bringt.

Darüberhinaus gibt es auch Gegenden, in denen zwar Sprachen, die in schriftlicher Form existieren, gesprochen werden, wo die Mehrzahl der Menschen jedoch nicht lesen und schreiben gelernt hat. Auch dort ist die jeweilige Kultur anders ausgerichtet als an Orten, wo lesen und schreiben ganz selbstverständlich zum Alltag gehören.

Denn Kultur und Sprache sind untrennbar miteinander verbunden. Das wird spätestens dann spürbar, wenn man trotz intensivem Studiums der Sprache eines Landes bei einem Aufenthalt im entsprechenden Land feststellen muss, dass man nicht wirklich versteht, um was es den Menschen eigentlich geht.

Kultur und Sprache bedingen sich gegenseitig. Ein Beispiel hierfür ist der Aspekt Zeit. Welche Wörter zur Messung und Einteilung von Zeit verwendet werden, kann sich von Sprache zu Sprache erheblich unterscheiden. Dadurch ergibt sich auch der Stellenwert von Zeit in der jeweiligen Kultur, z.B. ob sich hauptsächlich an der Sonne und dem Mond orientiert wird oder die Zeit anhand von wiederkehrenden Ritualen oder anhand von genormten Uhren und Kalendern bestimmt wird. Auch die Tatsache, ob es in einer Sprache z.B. eine passive Form gibt oder nur die aktive Form, kann viel über die jeweilige Weltanschauung und traditionelle Organisation einer Kultur sagen.

So spiegelt zum einen die Sprache wichtige Aspekte der jeweiligen Kultur wider, andereseits bedingt die Kultur auch die Sprache. Wenn sowohl die Sprache als auch die Kultur lebendig sind, dann ergibt sich daraus ein aktives Wechselspiel, das einerseits Traditionen aufrechterhält und andereseits auch Anpassungen und Neuerungen ermöglicht.

Auch in welcher Form die Sprache verwendet wird – ob ausschließlich mündlich oder auch in schriftlicher Form – hat einen großen Einfluss auf die jeweilige Kultur.

Beim Wort lesen denken die meisten Menschen sofort an Texte lesen. Wenn man es genauer betrachtet, existiert das Lesen dagegen in einer Vielzahl von unterschiedlichen Formen. Es gibt Menschen, die können Tierspuren lesen, den Gesundheitszustand einer Pflanze ablesen, das Meer lesen, den Schnee lesen, den Wetterbericht im Himmel lesen, den Zeitpunkt der optimalen Ernte von Früchten ablesen, Navigation in den Sternen lesen, Gesichtszüge und Körpersprache lesen, das Beziehungsgeflecht in Gemeinschaften ablesen und vieles mehr.

Im Laufe der Jahrhunderte hat sich im deutschsprachigen Raum die Bedeutung des Wortes lesen von „aufsammeln“ über „einer Spur folgen“ zu „Schriftzeichen verfolgen“ entwickelt.1

Wenn Menschen in Kulturen und Gemeinschaften, in denen keine Texte gelesen und geschrieben werden, als ungebildet und im Extremen sogar als evolutionär minderwertig dargestellt werden, dann wird ihnen definitiv unrecht getan. Leider ist diese Wahrnehmung nach wie vor sehr weit verbreitet.

In der westlichen Welt der Industriestaaten (und durch die Kolonialisierung und Globalisierung wurde diese Sichtweise auch in die meisten anderen Teile der Welt hinausgetragen) wird Bildung automatisch mit Texten, Büchern, Zeitungen, Internetrecherche etc. gleichgesetzt. Wissen, das mündlich, durch Lieder oder durch Tänze weitergegeben wird oder das durch die tägliche Interaktion mit der direkten Umwelt erfahren wird, hat einen vergleichsweise geringen Stellenwert.

Wenn man diese Sichtweise unhinterfragt auf schriftlose Kulturen und analphabetische Individuen anwendet, dann ist es nicht verwunderlich, dass diese Menschen als ungebildet erscheinen. Sie können keine Texte lesen und verstehen und auch keine Fragebögen oder Formulare ausfüllen oder selbst Texte schreiben. Ihr Wissen ist dadurch nur schwer erfassbar, messbar oder vergleichbar. Hinzu kommt, dass erzählte Geschichten oder Lieder je nach Vortragendem andere Nuancen annehmen und selbstgemachte Erfahrungen von Natur aus individuell verschieden sind, wodurch das so erlangte Wissen wesentlich heterogener ist als in Massenfertigung hergestellte Bücher oder Texte.

Was aus westlicher Sichtweise als Nachteil gesehen wird, nehmen andere dagegen als positiven Aspekt wahr. So sieht z.B. der Inder Jinan KB2 das Wissen und Erleben von Menschen, die nicht lesen oder schreiben (Analphabeten oder Menschen die sich, wie er selbst, bewusst dazu entscheiden) als authentischer und relevanter an, eben weil es aus der direkten Erfahrung mit der Umwelt entsteht und nicht sozusagen „aus zweiter Hand“ kommt. Beim direkten Erleben sind stets mehrere oder alle Sinne beteiligt – es ist ein ganzheitlicher, simultaner Prozess im Gegensatz zum kognitiven, sequenziellen und abstrakten Prozess des Lesens oder Schreibens. Dadurch ist das auf diesem Weg erlangte Wissen wesentlich lebendiger, relevanter und auch alltagstauglicher. Es stärkt die geistige, emotionale, körperliche und soziale Gesundheit. Die lokale Kultur wird einerseits aufrechterhalten, während sie gleichzeitig flexibel bleibt und an Veränderungen in der direkten Umwelt angepasst wird.

Eine These, die vom US-Amerikaner Leonard Shlain3 aufgestellt wurde, besagt darüberhinaus, dass die Harmonie zwischen weiblichen und männlichen Prinzipien in Kulturen durch Alphabetisierung gestört wird, was patriarchalische Strukturen wie Hierarchie und Unterdrückung fördert.

Auch die fortschreitende Umweltzerstörung wird von manchen mit dem starken Fokus auf Lesen und Schreiben, sowohl in den Industrienationen als auch in anderen Ländern als Folge der Kolonialisierung und groß angelegter Alphabetisierungsprogramme, in Verbindung gebracht. Durch die Abstraktion und die Beschränkung auf das Kognitive, die beim Lesen und Schreiben stattfinden, geht die direkte, sensorisch und emotional geprägte Verbindung zum natürlichen Lebensraum nach und nach verloren. Außerdem wird durch die Verwendung von Texten standardisiertes und homogenisiertes Wissen undifferenziert verbreitet, wodurch spezielles lokales Wissen über die harmonische Beziehung und die Erhaltung des Gleichgewichts mit der Natur verloren geht.

Der Brasilianer Paulo Freire4 betonte seit den 1960er Jahren, dass Alphabetisierung ohne direkten Kontext zum Alltagsleben der Teilnehmer mehr Schaden als Nutzen schafft. Umweltzerstörung, Diskriminierung und Ausbeutung trotz Einführung der Demokratie, und vor allem auch die Schwächung des Vertrauens in das eigene Wissen, die persönliche Gestaltungskraft und die lokale Kultur, können alles Folgen sein von „von außen übergestülpter Alphabetisierung“ und dem oft damit verbundenen Deklarieren von traditionellem Wissen und Fähigkeiten als minderwertig.

Dies wurde bereits zu Kolonialzeiten bewusst eingesetzt, als die Kinder indigener Gemeinschaften ihren Kommunen entrissen und in Internate gesperrt wurden. Auf diese Weise wurden sie von ihren Kulturen und Sprachen entfremdet und die Verbundenheit zu ihrer Familie und ihrer ethnischen Gruppe sowie ihr Selbstwertgefühl vernichtet.5

Heute geschieht dies zwar nicht mehr auf solch brutale Wege, doch die Diskreditierung nicht-westlichen Wissens und Lebensweisen und das damit verbundene Sprachensterben ist auch heute noch allgegenwärtig. Laut Schätzungen sind derzeit ca. 3.000 Sprachen vom Aussterben bedroht. Manche davon werden nur noch von wenigen alten Menschen gesprochen und höchstwahrscheinlich von ihnen mit ins Grab genommen werden. Solange die Kenntnis von indigenen Sprachen – viele davon ohne schriftliche Form – und der Kulturen, die in ihnen stecken und von ihnen vermittelt werden, nicht auch für junge Menschen attraktiv und erstrebenswert sind, wird sich an dieser traurigen Entwicklung wohl auch nichts ändern.

Glücklicherweise gibt es jedoch auch positive Beispiele die Hoffnung schenken. So streben z.B. in Nordamerika mehr und mehr Nachfahren der Urbevölkerung danach die fast verlorengegangenen Kulturen ihrer Vorfahren – und damit auch deren Sprachen – für sich wiederzuentdecken und zu einem stolzen Teil ihrer Persönlichkeit zu machen.

Auch in asiatischen und afrikanischen Ländern gibt es Bewegungen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Kulturen, die Sprachen und das Wissen ihrer Vorfahren zu erhalten bzw. für sich selbst wiederzuentdecken. Damit verbunden ist oft auch die Erkenntnis, dass Lernen anders stattfinden soll als in konventionellen westlich-geprägten Schulen. So entstehen Orte und Wege des Lernens, die auf alten Traditionen beruhen, und die auf die Erfahrung der natürlichen Umwelt, der Gemeinschaft, der kulturellen und der spirituellen Dimension fokussiert sind.6

Das vielfältige weltweite Wissen und die unterschiedlichen Lebensweisen wahrzunehmen und als gleichwertig anzuerkennen, ohne Alphabetisierung, Texte und „Expertenwissen“ (das ja oft auf einer sehr einseitigen und ausgrenzenden Definition von „Experten“ beruht) über alles andere zu stellen, könnte ein enorm wichtiger und weitreichender Schritt zu einem nachhaltigeren und friedlicheren Zusammenleben von Menschen aller Kulturen und im Einklang mit der Natur sein.

Dies beinhaltet auch die Erhaltung der weltweiten Sprachenvielfalt. Es ist ein sehr interessanter Zusammenhang – und höchstwahrscheinlich kein Zufall – dass die Gegenden der Welt, die die größte Artenvielfalt an Flora und Fauna aufweisen, auch die größte kulturelle und sprachliche Vielfalt zeigen. Wie dies genau zusammenhängt und was die westlichen, sogenannten entwickelten Länder daraus in Bezug auf eine nachhaltige Lebensweise und Erhaltung von biologischer und kultureller Vielfalt lernen können, ist ein spannendes Thema, dessen Erforschung gerade erst in den Kinderschuhen steckt.

Es bleibt zu hoffen, dass bei dieser Forschung nicht nur auf das Verfassen und Lesen von Büchern und wissenschaftlichen Artikeln gesetzt wird, sondern dass vor allem den Menschen, die in diesen Gebieten verwurzelt sind, zugehört wird und ihre Art der Bildung und ihr Wissen ernst genommen werden. Lernbereitschaft und Offenheit für Dialoge und Denkweisen jenseits des vorherrschenden Weltverständnisses, werden immer wichtiger, je dringender die globalen Probleme werden.

Welche Rolle die neuen Medien in diesem interkulturellen Austausch spielen können, wird sich ebenfalls in naher Zukunft zeigen. Die Nutzung von Spracherkennung, Vorlese-Apps und Sprachnachrichten sowie die vermehrte Verwendung von Video anstelle von Text zur Übermittlung von Wissen und Ideen bietet jedenfalls auch Menschen, die nicht lesen oder schreiben können bzw. deren Muttersprache eine schriftlose Sprache ist, die Möglichkeit zur aktiven Partizipation auf globaler Ebene.

Es wird spannend sein, zu sehen, wie die unterschiedlichen Kulturen damit umgehen und ob vor allem die jungen Menschen die neuen Medien vermehrt dazu nutzen werden, die Sprachen, das Wissen und die Traditionen ihrer Vorfahren aufrecht zu erhalten und an die nächste Generation und an interessierte Menschen weltweit weiterzugeben.

1https://www.wissen.de/wortherkunft/lesen

2https://independent.academia.edu/JinanKodapully

3Siehe Leonard Shlain: The Alphabet Versus the Goddess: The Conflict Between Word and Image (1999)

4Siehe z.B. Paulo Freire: Education for Critical Consciousness (1974)

5Siehe z.B. den Film Schooling the World, http://carolblack.org/schooling-the-world/

6z.B. Shikshantar in Indien, Unitierra in Mexiko, Kufunda Village in Zimbabwe, KŪ-A-KANAKA in Hawaii

Der Artikel ist 2018 in Heft 81 – Sprache – Sprechen, Lesen, Schreiben erschienen.