Mama lernt gamen

Text: Eaglechild, Ausgabe Nr. 85

Wir sind eine Familie von Informatikern, aber seltsamerweise begegnete ich den Videospielen erst, als ich das vierzigste Lebensjahr bereits überschritten hatte. Mein Sohn war damals noch jung, die Tochter noch ein Baby. Wir waren im Winterurlaub mit den Schwiegereltern und den Geschwistern meines Mannes, und irgend jemand hatte eine Spielkonsole mitgebracht.

Da wir zu Hause berufsbedingt viel am Computer arbeiteten, war mein Sohn an den Umgang mit Bildschirmmedien gewöhnt und hatte auch schon selbst einige Kreativ- und Lernspiele mit Buchstaben, Zahlen, Tieren usw. gespielt. Aber eines der Spiele, welche die älteren Kinder dort an der Konsole spielten, faszinierte uns besonders, denn es war etwas völlig neues für uns.

Es hatte nämlich eine spannende Geschichte, die in einer wunderschönen dreidimensionalen Fantasy-Welt spielte. Es gab schwierige Rätsel, durch deren Lösung man Informationen erhalten, Türen in Labyrinthen öffnen und Feinde besiegen konnte. Dabei ging es um genaue Beobachtung, Ergründen von Zusammenhängen – und auch ein wenig um Geschicklichkeit.

Mein Sohn schaute wie gebannt den Jugendlichen zu, und auch ich bewunderte die Schnelligkeit und Sicherheit, mit der sie die Steuerung bedienten, um über Abgründe zu springen, auf dem Pferd zu reiten oder mit dem Schwert zu kämpfen. Aber obwohl ich von der Möglichkeit begeistert war, in diese wunderbare Welt eintauchen zu können, erwog ich nicht für einen einzigen Augenblick, einmal selbst den Controller in die Hand zu nehmen. Doch als der Urlaub zu Ende war, kam der Besitzer der Spielkonsole zu mir und schenkte mir das Spiel!

Ich nahm es mit, aber auch zu diesem Zeitpunkt war ich noch fest davon überzeugt, dass es bei uns irgendwo in einer Schublade verstauben würde. Wieder wurde ich überrascht, denn als mein Mann von seinem ersten Arbeitstag nach dem Urlaub nach Hausekam, brachte er eine Spielkonsole mit! Yeah!

Wir bauten also die Konsole auf, verbanden sie mit dem Fernseher und legten das Spiel ein, das wir geschenkt bekommen hatten. Mein Sohn war überglücklich, aber als er mit dem Spiel beginnen sollte, gab er mir die Steuerung in die Hand.

“Du sollst spielen.”

Oh Schreck!

Da saß ich nun mit meinen vierzigplus Jahren, hielt zum ersten Mal einen Game-Controller in der Hand und sollte den Helden mit der grünen Mütze bewegen. Wie gehe ich vorwärts? Wie steige ich auf das Pferd? Wie springe ich über ein Hindernis? Wie ziehe ich das Schwert, und – oh Gott – wie kämpfe ich überhaupt? Überall sind Feinde, und ich will wegrennen, aber ich stoße gegen eine magische Barriere, denn ich muss die Feinde erst besiegen, um den Weg zu öffnen!

“Du musst den B-Knopf gedrückt halten, dann kommt das Bannfeld!”, ruft mein Sohn, und ich will ihm die Steuerung geben – aber nein, Mama muss es tun. Endlich funktioniert es, die Feinde lösen sich in einer Rauchwolke auf, und der Weg ist frei. Mama atmet auf und stellt verblüfft fest: “Ich kann das doch!”

Das alles ist inzwischen mehr als zehn Jahre her, und Mama ist beim Gamen geblieben. Wir brauchten etwa drei Jahre, bis wir das Spiel zu Ende gespielt hatten, denn wir stießen auf einige schwierige Aufgaben, die wir zuerst nicht lösen konnten. Doch als mein Sohn älter wurde, begann er, selbst die Steuerung zu bedienen, und wir informierten uns im Internet, wie die Aufgaben zu lösen waren. Er war es dann auch, der das Spiel beendete, aber ich war so fasziniert, dass ich unbedingt noch mehr haben wollte.

Ich recherchierte weiter und fand heraus, dass das Spiel, das wir hatten, Teil einer ganzen Reihe war, die in den 80er Jahren begonnen wurde und bis heute fortgesetzt wird. Ich besorgte also die alten Spiele und begann mit dem ersten, um zu lernen. Inzwischen haben wir fast alle Spiele der Reihe durchgespielt, und ich bin erstaunt, wie viel wir dadurch gelernt haben.

Meine Kinder lernten lesen, indem sie die – manchmal wirklich langen – Dialoge in den Spielen lasen. Am Anfang las ich ihnen alles vor, aber irgendwann sagten sie:

“Schon gut, Mama, ich kann das jetzt allein.”

Es ist wirklich frustrierend, festzustellen, dass man nicht mehr gebraucht wird…

Sie lernten rechnen.

Wie viele Rubine brauche ich noch, um die magische Rüstung kaufen zu können? Ich könnte auf den Berg gehen, dort gibt es drei rote, und wenn ich dann noch einen gelben finde, habe ich genug.

Und sie lernten, sich selbständig die Informationen zu beschaffen, die sie für die Lösung eines Rätsels brauchten.

„Mama, kannst du mal auf die Seite gehen, du weißt schon. Schau mal nach, was ich tun muss, um das Wasser anzustellen. Ich kann gerade nicht, denn die Zeit läuft, und ich muss mich beeilen.“

Inzwischen spielen beide auch viele andere Spiele – besonders jenes Bau- und Forschungsspiel mit Würfelblöcken, das alle Kinder kennen. Nur Mama ist bei der einen Reihe geblieben – aber auch sie hat gelernt.

Ich gab mich nicht mit den Spielen zufrieden, denn ich wollte immer noch mehr – noch mehr Welten, Charaktere, Rätsel und Geschichten – also begann ich, Fan-Geschichten zu lesen. Ich las über mehrere Jahre viele gute und auch weniger gute Geschichten, bis ich auf eine stieß, die mich wirklich beeindruckte. Es war ein richtiges, langes Buch, das in dem Universum der Spiele angesiedelt war und die Handlung meines Lieblingsspiels ergänzte.

Ich war so begeistert, dass ich es sogar vollständig aus dem Englischen ins Deutsche übersetzte, um es einer Freundin zugänglich zu machen, die damals noch nicht Englisch konnte.

Durch diese Arbeit lernte ich mehr Englisch, als ich bis dahin in meinem ganzen Leben gelernt hatte. Aber ich erfuhr auch, wie man mit einem Übersetzungsprogramm umgeht, und mein Wortschatz erweiterte sich enorm, weil ich oft im Thesaurus nach Synonymen suchen musste. Das Programm zerlegte den Text in einzelne Sätze, die mir der Reihe nach zur Übersetzung vorgelegt wurden, und ich konnte lernen, wie eine Geschichte aufgebaut wird, wie Dialoge geschrieben, Stimmungen erzeugt und Gefühle mit Worten dargestellt werden.

Ich schreibe schon seit meinem achten Lebensjahr Geschichten und Gedichte, und es war schon immer mein Traum, einmal solch ein langes Buch zu schreiben. Bis dahin hatte ich ausschließlich Science-Fiction-Geschichten geschrieben, aber als ich die Übersetzung des Buches beendet hatte, fühlte ich mich bereit, eine erste Geschichte zu schreiben, die in der Fantasy-Welt meines Lieblingsspiels angesiedelt war. Es sollte eine romantische Geschichte werden, denn ich wollte lernen, leidenschaftliche Liebesszenen zu schreiben.

Ich schrieb also einfach drauflos, versank in meiner Geschichte, und verliebte mich Hals über Kopf in meine Charaktere. Glücklicherweise waren gerade Ferien, und ich konnte mich voll auf das Schreiben konzentrieren. Ich schrieb manchmal sogar bis zu zehn Stunden am Tag, und die Ideen flossen aus meinen Fingern in einem Flow, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Als die Geschichte fertig war, begann ich eine neue, und dann noch eine.

Und dann war die Zeit gekommen, mir meinen Traum zu erfüllen.

Es entstand zuerst ein Roman, an dem ich etwa zwei Jahre arbeitete. Meine Testleserinnen waren begeistert, aber ich war noch nicht ganz zufrieden. Ich ließ die ersten Kapitel von einer professionellen Lektorin lesen, die mir viele gute Tipps gab, wie ich meinen Stil verbessern konnte. Es brannte mir in den Fingern, die neuen Erkenntnisse umzusetzen, und ich begann, den Roman ein zweites Mal zu schreiben. Für die neue Version brauchte ich wieder zwei Jahre, aber sie ist drei mal so lang wie die erste geworden. Die erste Version war noch sehr von dem Stil des übersetzten Buches beeinflusst, doch durch die Überarbeitung habe ich meinen eigenen Stil gefunden.

Was hat mir das Gamen also gebracht?

Zunächst lernte ich, zu gamen. Ich kann mit dem Controller umgehen, kenne mich in den Welten aus und habe mein Lieblingsspiel inzwischen etwa zehn Mal durchgespielt. Aber ich lernte auch viele, viele andere Dinge, die ich ohne das Gamen nie gelernt hätte – wie zum Beispiel das Spielen auf der Okarina.

In dem erwähnten Lieblingsspiel hat eine magische Okarina eine wichtige Rolle, und man kann mit der Steuerung kleine Melodien spielen, die eine bestimmte Funktion in der Handlung erfüllen. Als ich das Spiel kennenlernte, spielte ich schon etwa drei Jahre Blockflöte, aber ich wollte unbedingt die Okarina ausprobieren. Ich recherchierte und bestellte eine gute Zweikammern-Okarina aus Kunststoff, die eine Nachbildung des Instruments aus dem Spiel ist. Sie blieb jedoch mehrere Monate liegen, bis meine junge Freundin, für die ich das Buch übersetzt hatte, ebenfalls auf der Okarina spielen lernen wollte. Ich holte also meine Okarina hervor und übte viele Stunden, um es ihr beibringen zu können. Inzwischen spiele ich nur noch Okarina, denn sie ist für mich einfacher zu spielen. Mit den neuen Kenntnissen schrieb ich einige Lieder für mein Buch, die auf der Okarina gespielt werden. Ich wollte eine Begleitung dafür haben und lernte, passende Akkorde zu finden und sie in einem Musikprogramm zu setzen. Es sind zwar sehr einfache Begleitungen mit Klavier, Gitarre oder Violine, aber es macht großen Spaß, die Lieder auf der Okarina zu spielen und sich vom Computer begleiten zu lassen.

Auch viele Schwertkampfszenen kommen vor, und ich schrieb sie zuerst so, wie ich sie mir vorstellte. Doch irgendwann sagte mir ein Freund, der mit dem Schwert kämpfen kann, dass ein richtiger Schwertkampf ganz anders aussehe, als die Filme und Spiele es darstellten. Natürlich wollte ich nicht die ahnungslosen Schwertkampfszenen in meinem Buch haben, deshalb nahm ich Kontakt zu einem Verein für mittelalterliches Fechten (HEMA – Historical European Martial Arts) in meiner Nähe auf und besuchte das jährliche Treffen der Fechter.

Bei dieser Veranstaltung konnte ich zwar noch nicht bei den Workshops mitmachen, aber ich schaute mir alles an, sprach mit den Teilnehmern, fotografierte und filmte, um zu lernen. Bald stellte ich jedoch fest, dass ich zwar beschreiben konnte, was die Kämpfer taten, aber ich verstand nicht, warum sie es taten. Um einen Kampf aus der Sicht eines Charakters zu beschreiben, muss ich seine Motivation kennen. Ich muss beschreiben was er sieht, was er fühlt, was er denkt, was er tut und eben warum er es tut – und das kann ich nur, wenn ich es selbst sehe, fühle, denke und tue. Ich musste es also wirklich selber tun, um zu wissen, wie es sich anfühlt. Deshalb wurde ich Mitglied in dem Verein und begann, mit dem Langschwert fechten zu lernen.

Da ich auch Landschaften und Orte beschreiben musste, merkte ich, wie meine Beobachtungsfähigkeiten sich entwickelten. Wie sieht eine Landschaft im Frühling aus, wie ist es im Winter? Was für Pflanzen gibt es im Wald, und welche wachsen auf der Wiese? Wie sieht der Himmel aus, wenn ein Gewitter bevorsteht?

Dann gibt es Fluchtszenen, wo die Charaktere Hindernisse überwinden müssen. Wie kommt man über eine hohe Mauer? Wie klettert man hinauf? Meine Kinder machen seit einigen Jahren die Sportart Parkour, die sich mit effizienter Fortbewegung und der Überwindung von Hindernissen beschäftigt. Zuerst fragte ich sie und ihre Trainer und ließ mir die Techniken erklären, aber inzwischen habe ich selbst damit angefangen. Ich kann eine Parkour-Rolle mit dem Schwert in der Hand machen, aufspringen und meinen Gegner mit dem Schwert bedrohen. Das konnte ich mit zwanzig Jahren nicht!

Auch für meine Kinder hat die Beschäftigung mit den Spielen sich sehr gelohnt. Da wir alle die Spiele kennen, können wir sie sehr gut ins tägliche Lernen einfügen. Ich kann von den Spielen inspirierte Arbeitsblätter erstellen und kleine Geschichten als Übungstexte schreiben, und wir können auch ohne die Spielkonsole und den Bildschirm spielen. Wenn wir im Auto fahren, spielen wir gerne eine Art Teekessel-Spiel, wo wir Charaktere, Orte oder Gegenstände aus den Videospielen erraten. Der Befragte darf nur mir »Ja« oder »Nein« antworten, und die Kinder lernen dadurch, wie man durch gezielte Fragen die Informationen filtert, um die Menge der gesuchten Dinge einzugrenzen.

Wenn wir mehrere Kinder zusammen haben, welche die Spiele kennen, spielen wir eine Abwandlung des Scharade-Spiels, wo jemand einen Charakter aus den Videospielen mit Pantomime nachahmt und die anderen den Charakter erkennen müssen. Dann gibt es noch ein anderes lustiges Spiel, wo ich die Lieder aus den Videospielen auf der Okarina spiele, und die Kinder stellen mit Pantomime die Handlung dar, die im Spiel passiert, wenn das jeweilige Lied erklingt.

Durch teamorientierte Onlinespiele können die Kinder den Kontakt zu ihren Freunden halten, die oft weit entfernt von uns wohnen. Sie lernen sowohl, selbständig zu arbeiten, als auch im Team etwas zu erreichen. Sie können einander bei schwierigen Aufgaben helfen oder Aufgaben aufteilen, und sie lernen, ein Team zu führen und Aufgaben an das richtige Teammitglied zu delegieren.

Daneben lernen sie programmieren, wie man einen Server einrichtet und administriert, wie man gute von schlechten Spielen unterscheidet, wie man sich im Internet fair verhält, wie man mit den Gefahren umgeht, die dort lauern, wie die deutsche Rechtschreibung funktioniert – und natürlich viel, viel Englisch. Ich selbst schreibe inzwischen lieber, als zu gamen, aber ich habe die Vorteile schätzen gelernt, die es für mich und meine Kinder bietet. Durch die Begegnung mit den Videospielen konnte ich meinen Jugendtraum erfüllen und kann mitreden, wenn meine Kinder sich über Videospiele unterhalten. Und irgendwie bin ich auch ein wenig stolz darauf, wenn sie vor ihren Freunden mit ihrer coolen Mama angeben.

Dieser Artikel ist 2020 in Heft 85 – Spielen erschienen