Ein Plädoyer für Aktivismus

Es ist tagtäglich unsere Entscheidung, für gesellschaftspolitische Veränderung aktiv zu werden, Missstände zu erkennen und Alternativen zu leben. Aus dieser Entscheidungsmacht resultiert Verantwortung. Nehmen wir diese Verantwortung an und gehen gemeinsam Schritte in ein solidarisches, zukunftsfähiges Miteinander!

Erschienen 2015 in Heft 66 – Entscheidungen.

Ohnmacht lässt uns stagnieren

Aus gesellschaftlichen Missständen resultieren oft Wut und Ohnmacht – diese lassen uns stagnieren. Wir sehen keine Auswege, keine Utopien am Horizont. Wie können wir aus dieser Verzweiflung, dieser Hoffnungslosigkeit, Motivation schöpfen?

Mich beflügelt der Gedanke, Wut und Ohnmacht in etwas Positives zu wandeln und die nötige Veränderung durch das Wissen um Alternativen zu gestalten. Wir können lernen, uns außerhalb der gewohnten Denkmuster zu bewegen und nicht nur das Schreckliche zu sehen, sondern zeitgleich die mögliche Alternative.

Aktivismus als Resultat aus Verantwortung

Abgesehen davon, dass es mir Freude bereitet und ich deswegen jeden Tag Vollzeit aus innerer Motivation  aktiv bin, sehe ich es auch als Resultat aus der Tatsache, Verantwortung zu übernehmen.

Ich persönlich komme an diesem Punkt auch zur folgenden Frage: Ist es nicht anmaßend, in Selbstmitleid und Depressionen zu versinken in Anbetracht der Tatsache, wie gut es mir geht und welche Privilegien ich genieße?

Aus dieser Erkenntnis heraus resultiert für mich die Pflicht zum Aktivismus, zum Widerstand gegen bestehende Ungerechtigkeiten. Was nutzt es, wenn jene, die meinen etwas erkannt zu haben und Kritik daran üben, genau daran mental zerbrechen?

Die individuelle und gesellschaftliche Ebene sind miteinander verknüpft

Auf gesellschaftlicher Ebene sind wir uns kognitiv oft Missständen bewusst. Dadurch, dass diese externalisiert und somit unsichtbar gemacht werden, verdrängen wir sie jedoch. Der emotionale Link fehlt.

Dahingegen haben wir auf individueller Ebene meistens sehr präsent, dass etwas schief läuft, da wir selbst unmittelbar davon betroffen sind – von Stress, sozialem Druck und so weiter. Diese Schieflagen versuchen  wir oft zu verdrängen, denn das Erkennen derer würde dazu führen, anstrengende, unbequeme Veränderungen wagen zu müssen. In unserer »bequemen Schieflage« geht es uns emotional allerdings weiterhin schlecht.

Auf diese Weise stagnieren engagierte Menschen, weil sie auf persönlicher Ebene nicht ausgeglichen sind. Hier gilt es, die Probleme zu erkennen und Alternativen zu leben. Denn nur, wenn es uns gut geht, können wir uns gesellschaftspolitischen Herausforderungen stellen. Nur dann können wir mit Leichtigkeit und Freude Projekte und Aktionen wuppen. Das macht deutlich, dass beide Ebenen miteinander eng verzahnt sind.

Entscheidungen treffen  wir immer

Wir entscheiden uns immer, auch wenn wir stagnieren und an der offensichtlich unglücklichen Situation nichts ändern – in diesem Fall für die Missstände. Wenn auch nicht komplett aktiv, so werden sie doch passiv angenommen und es wird nichts zur Veränderung beigetragen.

Um etwas zu ändern, ist es meistens notwendig, die eigene Komfortzone ein Stückchen zu verlassen. Wenn wir das tun, lernen wir am besten. Dort warten die eigenen Ängste, Unsicherheiten und Sorgen. Überwinden wir unsere (mentalen) Grenzen, können wir unsere eigenen Stärken und Talente entdecken und daraus Mut und Selbstvertrauen schöpfen.

Soziale Grundbedürfnisse

Die folgenden sechs sozialen Grundbedürfnisse sind die Quintessenz der Bedürfniskonzepte verschiedener Theoretiker*innen:

  • Liebe – Es geht vor allem darum, das Gefühl zu bekommen, gemocht und angenommen zu sein, unabhängig von irgendwelchen Leistungen. Einen leistungsfreien Selbstwert zu haben.
  • Anerkennung – Anerkennung bekommen für das, was du tust oder für Fähigkeiten, die du hast. Hier gibt es meiner Ansicht nach auch eine »Schein«-Anerkennung: Beispielsweise, wenn ein gesellschaftlich angesehener Beruf ausgeübt wird, wird dieser Person meist automatisch Anerkennung geschenkt. Personen mit weniger anerkannten Berufen hingegen werden eher stigmatisiert.
  • Sicherheit – Kann durch verschiedenes erreicht werden: Durch eine Aufgabe, die mir Sicherheit gibt, durch einen geschützten Raum, der von anderen geachtet wird, und vieles weitere.
  • Orientierung – Hier geht es auch um Lebens – und Lernanliegen. Kann ich einen Bezug herstellen zwischen meinem momentanen Tun und meinem Lebensanliegen, dann kann das Orientierung geben. Genauso können andere Personen Orientierung schenken.
  • Autonomie – Unabhängigkeit, die eigene Identität und Individualität zum Ausdruck bringen. Eigenständig sein in Entscheidungen und Handlungen.
  • Sinnvolles Tun – Das Bestreben, unserem Leben einen Sinn zu geben. Was kann ich bewegen? Selbstwirksamkeit erkennen und das eigene Wirken in der Welt wertschätzen.

Wenn du einen Moment nachdenkst, wärst du vermutlich auch selbst auf diese oder ganz ähnliche Begriffe gekommen. Dennoch finde ich es wichtig, sie sich immer wieder bewusst zu machen. Warum?

Selbstwirksamkeit erkennen

Ganz einfach: Oft sind diese Grundbedürfnisse nicht erfüllt. Meist ist uns nicht bewusst, was uns fehlt. Dann versuchen wir manchmal, unsere emotionalen Schieflagen durch Konsumgüter auszugleichen. Dass das nicht klappen kann oder sogar zu einer Verschlimmerung führt, wird nochmal deutlich, wenn wir uns die Ursache unserer Unzufriedenheit anschauen.

Es gilt, selbstbestimmt das Leben zu gestalten, nicht fremd bestimmt durch Konsumartikel, die uns suggerieren, unsere Bedürfnisse zu kennen und erfüllen zu können.

Viele der sozialen Grundbedürfnisse können wir zu einem Großteil aus uns selbst schöpfen: Anerkennung, Sicherheit, sinnvolles Tun, Orientierung, Autonomie, Liebe. Erst durch Selbstakzeptanz können Zufriedenheit und Selbstvertrauen erzielt werden, was wesentliche Punkte sind, um sich der eigenen Selbstwirksamkeit bewusst zu werden.

Wir beeinflussen unser soziales Umfeld

Und zwar tagtäglich durch unser Verhalten und die Entscheidungen, die wir treffen. Deutlich wird die Verantwortung, die wir damit tragen, nochmal anhand des »sieben Phasen der Veränderung«-Modells, welches oft in Coachingsituationen angewendet wird.

Auf Neues reagieren wir oft zunächst mit Schock oder Überraschung (1), da es sein kann, dass unser gesamtes bisheriges Weltbild in Frage gestellt wird. Diese Phase geht über in die Verneinung oder Verleugnung (2), in der rationale Argumente gesucht werden, die zeigen, warum eine Veränderung nicht notwendig oder sinnvoll ist. An diesem Punkt kann die rationale Einsicht (3) folgen: Wir erkennen die Notwendigkeit zur Veränderung an, schätzen unsere eigenen Fähigkeiten dazu allerdings als zu gering ein.

Die emotionale Akzeptanz (4) kann dazu führen, dass wir unsere Grundüberzeugungen sowie unser darauf beruhendes Verhalten in Frage stellen. In der Phase des Ausprobierens und Lernens (5) kann dann durch vorhandene Neugier Neues erprobt werden. Hier besteht die Chance Erkenntnis und Kompetenzgewinn und damit Selbstvertrauen (6) zu erlangen: Durch neue Erfahrungen erlangen wir das Selbstbewusstsein, unser Verhalten nachhaltig zu ändern.

Durch dieses Erkennen von Herausforderungen und den damit verbundenen Perspektivwechsel kann die letzte Phase beginnen: Integration und neues Wachstum (7), in welcher nun das Neue zum Gewohnten wird und unser Alltagsleben mit Leichtigkeit durchdringt.

Die Phasen der Veränderung sind natürlich nicht statisch, sie können auch dynamisch ineinander übergehen und sind vermutlich je nach Person unterschiedlich. In jeder Phase besteht auch die Gefahr, zurück zu fallen und den Veränderungsprozess abzubrechen.

Wir sehen: Veränderung ist komplex und passiert meist nicht von jetzt auf gleich. Dennoch haben wir die Möglichkeit, Menschen in unserem Umfeld vor allem durch positives Vorleben zu zeigen, wie einfach und unbeschwert neue Wege sein können. Es geht darum, authentisch zu sein. Wenn wir stattdessen selbst stagnieren oder unseren Mitmenschen Vorwürfe für ihr Verhalten machen, hilft ihnen das nicht weiter und führt womöglich sogar eher zu Abwehrmechanismen.

Oft bekommen wir vielleicht nicht mit, dass wir durch unser Vorleben von Alternativen anderen Menschen Impulse geben oder Motivation frei setzen, Ähnliches zu versuchen. Aber  selbst wenn: Auch der Samen zur Veränderung will gesetzt werden, damit als Resultat bunte Blumen sprießen können! 😉

Entscheidungen triffst du also nie nur für dich selbst, sondern für die gesamte Gesellschaft, deine Mitmenschen und Mitlebewesen. Tagtägliche Entscheidungen wie »Was esse ich heute?« oder »Nehme ich das Fahrrad oder das Auto?« scheinen banal und persönlich, beeinflussen allerdings ein breites Umfeld.

Wie stellst du dir eine Gesellschaft von morgen vor (web)

Wir werden groß in einem Korsett aus Autoritätenhörigkeit und zivilem Gehorsam

Verantwortung zu übernehmen ist nicht immer einfach. Vor allem deswegen nicht, weil wir anders sozialisiert werden. Überall wird uns alles vorgekaut, wir werden in ein Korsett gesteckt: in Kindergarten, Schule, Uni, Ausbildung, Arbeit sowieso und oft auch im »Elternhaus«. Immer verhalten wir uns gemäß dem starr Vorgegebenen und dem gesellschaftlich Anerkannten, was passgenau die Lücke zwischen sozialem Druck und Entscheidungen füllt.

Autoritätenhörigkeit führt uns in Unmündigkeit. Verantwortung wird in einer Hierarchiekette nach oben abgegeben, bis so etwas gesagt werden kann wie: »Keine Ahnung, warum ich so handle, aber es ist eben Befehl.«

Handlungen werden nicht auf ihren Sinn oder ihre Konsequenzen überprüft, sondern es wird taub und blind durch zivilen Gehorsam der Obrigkeit gefolgt – egal in welches Verderben sie uns führt. Und stehen wir mittendrin, waren wir doch nicht Schuld, sondern nur ein ausführendes Organ. Wir können niemals nur Objekt sein, sondern sind immer handelndes Subjekt. Übernehmen wir endlich Verantwortung für unser Tun!

»Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!«, hat Bertholt Brecht mal gesagt. In dieser Gesellschaft geschieht viel Unrecht im Deckmantel des Legalen.

Was resultiert(e) daraus für mich?

Das Modell der sieben Phasen zur Veränderung macht deutlich, dass wir in etlichen Situationen die Möglichkeit haben, Perspektivwechsel einzugehen und Neues zu leben. Wir können uns in allen Lebensbereichen immer wieder fragen: Wie möchte ich leben und wirken?

Mir wurde bewusst, dass ich mein Leben nicht mit Studieninhalten, die mich nicht interessieren sowie mit fragwürdigen Lernmethoden füllen, sondern vielmehr jeden Tag Freilernerin und Aktivistin sein möchte, indem ich meine Motivation und Energie gesellschaftspolitischen Projekten schenke.

Was bedeutet für mich »sinnvolles Tun« und was »gutes Leben«? Woraus kann ich Sicherheit und Orientierung schöpfen? Wer gibt mir Anerkennung oder ist das ein gesellschaftliches Konstrukt und wenn ich Selbstakzeptanz sowie – vertrauen aufgebaut habe, kann ich Anerkennung aus mir selbst erhalten? Welche Themen interessieren mich und helfen mir weiter? Welche sind gesellschaftlich relevant? Hier gilt es immer wieder, Antworten zu finden, Prioritäten zu setzen und mich zu entscheiden. Wie könnte eine solidarische Gesellschaft von morgen aussehen? Wie sieht ein selbstbestimmtes, glückliches Leben aus? Wie können wir unsere gesellschaftliche Position reflektieren sowie eigenes Handeln möglichst diskriminierungsfrei und zukunftsfähig gestalten?

Durch diese Fragen durchlebe ich immer wieder Perspektivwechsel und stehe vor neuen Entscheidungen. Die thematische Beschäftigung mit struktureller Gewalt, Anti-Rassismus und Critical Whiteness hat mir nochmal verdeutlicht, in welch einer krass-privilegierten Situation ich lebe. Aus dieser resultiert meine Verantwortung, zur gesellschaftspolitischen Veränderung beizutragen hin zu einer solidarischen, zukunftsfähigen Welt von morgen!

Ich nehme meine Verantwortung mit Freude und innerer Motivation wahr. Als Vollzeitaktivistin bin ich beim Projekt – und Aktionsnetzwerk living utopia aktiv, welches ich im September 2013 mitinitiiert habe. Wir gestalten alles vegan, geldfrei, ökologisch und solidarisch.

Zeit für Veränderung!

Mein Fazit des Artikels: Es ist Zeit für Veränderung! Das ist auch das Motto des Mitmachkongresses utopival, den ich mitorganisiere. Warum es aus ökonomischer, ökologischer sowie sozialer Sicht Zeit für Veränderung ist, erörtern zahlreiche Studien und Bücher, weswegen ich hier nicht näher darauf eingehen werde.

Ich möchte den Fokus genau wie das utopival viel mehr auf utopietaugliche Alternativen legen, die wir schon jetzt leben können. Wir brauchen nur genug Motivation und Selbstvertrauen, um die Entscheidung zu treffen, loszulegen und neue Wege zu gehen!

Du magst beim Mitmachkongress utopival dabei sein? Schau einfach mal unter www.utopival.org 🙂

In diesem Sinne »Not just talking about utopia, but: living utopia!« Es wachsen immer neue Graswurzelbewegungen aus dem Boden in allen Lebensbereichen. Gemeinsam können wir viel bewegen. Lasst uns einfach mal losgehen in ein neues Miteinander.

Pia Damm

Weiterführende Links:

Artikel von Pia Damm auf dem Blog des Experiment Selbstversorgung

Projekt- und Aktionsnetzwerk living utopia

Kampagne ‘geldfreier leben’

Utopie-Ökonomie-Konferenz in Berlin am 05. November 2016