Was braucht unsere Welt?

Text: Bianca Geburek – www.die-lernwerkstatt.org

Manchmal sitze ich in der S-Bahn, zwischen gestressten Menschen mit zweifelnden Augenbrauen, hier und da ein Feierabendbier, ein angespanntes Telefongespräch. Ich fahre durch eine Stadt, in der ich allzu oft das Gefühl habe, mich gegen die oberflächliche Kälte schützen zu müssen, die mir ringsum entgegenschlägt. Auf der Suche nach einem Rückzugsort, an dem ich mich sammeln und wärmen kann, gehen mir die besorgten Fragen meiner Verwandten zu diesem oder jenem Lebensabschnittsthema durch den Kopf und ich spüre, wie sich mein Körper anspannt. Ich muss schlucken beim Gedanken an die Betriebskostenabrechnung, den Semesterbeitrag und die offene Steuererklärung. Manchmal in solchen Momenten schließe ich die Augen, verschwinde ich in meinem Inneren und male ich mir die Welt aus, für die ich arbeite und das Leben, das ich mir in dieser Welt wünsche.

Es ist eine Welt, in der Respekt, Dankbarkeit und Offenheit regieren. Alles Leben ist wertvoll. Wir Menschen haben begriffen, dass wir in der glücklichen Lage sind, jeden Tag unser Leben aus der Fülle von Erfahrungen, Gefühlen, Begegnungen schöpfen zu können. Wir haben gelernt, dies dankbar anzunehmen und daraus die Kraft zu sammeln, die wir brauchen, um sinnvoll und liebevoll tätig zu sein.

Es ist eine Welt, in der uns gesunde Beziehungen zu uns selbst, der Natur, Tieren und unseren Freunden und Familien tragen, uns Stabilität und Halt geben, wenn aufwühlende Nachrichten, Ereignisse oder einfach starke Gefühle uns durchschütteln. In der wir uns darauf verlassen können, dass jemand da ist, wenn wir eine Schulter zum Anlehnen oder ein Ohr zum Zuhören brauchen. Eine Welt, in der auch die Jüngsten aufgefangen werden, wenn es in der Familie mal turbulent zugeht, wo sie aus einer Fülle an Beziehungsangeboten schöpfen können. Wo sich Generationen verbinden und es selbstverständlich ist, dass jede*r ständig von jedem lernen kann.

Es ist auch eine Welt des Schenkens, die uns über Sachzwänge, Einkommenslücken und ungerechte Abhängigkeiten erhebt in einen Raum des beziehungsvollen Austauschs. Eine Welt, in der Reichtum aus dem geschöpft wird, was Menschen schaffen: in der wir alle den Mut haben, uns auszudrücken, unser buntes, liebendes Selbst in Musik, Kunst, Texten, Filmen vor allem aber in der täglichen Begegnung mit Menschen zum Ausdruck zu bringen.

»Oh, das ist mir ja fremd!« sprach sie, staunte und ging neugierig darauf zu. Neues, Unbekanntes, Fremdes löst in dieser Welt, für die ich arbeite, Freude und Neugier aus, den Wunsch, näher heranzugehen und zu schauen, fühlen, erfahren. Ich heiße es willkommen in meinem Leben als eine Gelegenheit, zu verstehen und zu erfahren.

Eine Welt, in der es genug Raum gibt zum Träumen, Handeln, Lernen, Spielen. In jeder Stadt gibt es mindestens eine Träumothek, einen HandlungsSpielRaum, eine Lernwerkstatt, ein Rockzipfelbüro, ein Baumhaus, einen Tauschladen und ein öffentliches Wohnzimmer, in dem Konzerte, Lesungen, Ausstellungen und Diskussionen stattfinden. Überhaupt Diskussionen auf Herzensebene, in denen wir geduldig und im Vertrauen den gemeinsamen Wunsch finden und den Weg zu seiner Erfüllung einschlagen.

Eine Welt der Verbundenheit, des Vertrauens und – ja, auch daran arbeite ich – des Friedens.

Und manchmal, halte ich inne und spüre, dass alles schon da ist. Ich öffne meine Augen und schaue mein Leben an und sehe dort eine Fülle an liebevollen Beziehungen, sinnvollen Aufgaben, an beseelten Momenten. In mir wächst die Vorfreude auf den Moment, in dem all dies Normalität für alle Menschen dieser Welt ist. Ob ich ihn erleben werde? 


*Das Titelbild in der Träumothek in Cormatin (Frankreich) entstanden.

Der Artikel ist 2017 in Heft 73 – Was braucht unsere Welt? erschienen.