Vision einer Bildungslandschaft

Text: Karen Kern, Ausgabe Nr. 83

Würden wir in Deutschland eine Umfrage zu „Bildungsorten“ durchführen, würde sicher bei fast allen Befragten als erstes „Schule“ genannt werden, vielleicht gefolgt von „Volkshochschule“ und weiteren ähnlichen Einrichtungen. Andere würden wohl Museen nennen, Bibliotheken, Theater, Konzerthäuser, Burgen u.a. Würden wir eine solche Umfrage unter Freilernern durchführen, käme sicher eine noch größere Fülle an verschiedenen Orten zusammen, denn Freilerner sind meist sehr kreativ darin, Bildungsorte zu entdecken. Nicht nur auf Ferien und Wochenenden beschränkt, gehen viele dieser Familien regelmäßig auf Entdeckungstour für neue Bildungsorte oder genießen schon entdeckte Orte. Dabei werden natürlich auch Orte entdeckt, die viele auf den ersten Blick gar nicht als Bildungsorte ansehen würden. Schauen wir unseren Kindern von Geburt an beim Aufwachsen zu, dann sehen wir, dass jeder Ort ein Bildungsort sein kann: der Fußboden in unserem Wohnzimmer mit all den Sachen, die da auf dem Boden liegen, unser Esstisch und unsere Stühle zum Klettern, die Küche zum Kochen, der Garten, um kleinste Tiere zu beobachten, eine tote Amsel am Straßenrand, die Tochter und Mutter zum Philosophieren über das Thema Tod bringt, …

Aber halt mal, entsteht da nicht eine zu große Beliebigkeit, wenn alles zum Bildungsort werden kann? Ist es nicht sinnvoll, hier eine klare Trennung zu haben? An diesen Orten findet Bildung statt, an jenen nicht! Wer bestimmt das eigentlich?

Die Beispiele oben zeigen, dass eine klare Definition nicht einfach ist, wahrscheinlich auch nicht möglich. Dies wirft aber für mich die Frage auf: Wo findet denn eigentlich die Bildung statt? Die allererste Antwort, die mir da kommt: In unserem Gehirn, dem womöglich wichtigsten Bildungsort überhaupt. Nehme ich diesen Perspektivwechsel vor und sehe das Gehirn eines jeden einzelnen Menschen als DEN Bildungsort an, dann scheint es mir schlussendlich egal zu sein, wo die Bildung stattfindet. Dann kann sie zu Hause am Computer ebenso stattfinden wie im Freilichtmuseum des Wikingerdorfes Haithabu oder beim Spanischkurs in der örtlichen Volkshochschule. Derjenige, der bestimmt, ob ich mich bilde, bin ja ich selbst, sprich mein Gehirn. Dieses entscheidet, ob mich beispielsweise der Vortrag über die Geschichte der Burg Hohenzollern interessiert, die wir gerade besuchen. Dieses entscheidet, ob ich das Thema womöglich noch vertiefen werde, oder ob es für mich eher ein netter Zeitvertreib war und ich da nur mitgegangen bin, weil mein Partner, meine Geschwister oder meine Eltern diese Burg so interessant fanden und ich das meiste danach rasch wieder vergesse. Das heißt auch, Bildungsorte sind kein Garant für Bildung; das Wissen, welches sie zur Verfügung stellen, wird nur in Kombination mit den Vorgängen meines Gehirns in meine Wissensstruktur eingearbeitet. Ob und wie viel ich mir von dem Angebot merke, ist abhängig davon, ob ich interessiert bin, ob ich mich mit diesem Thema schon intensiver beschäftigt habe, ob ich das Thema mit ähnlichen Themen verknüpfen kann und wie rasch und intensiv mein Auffassungsvermögen ist.

Es gibt Orte, die bieten regelmäßig neue Anknüpfungsmöglichkeiten, wie z.B. eine Bibliothek, die einen einlädt, immer neue Bücher zu entdecken oder ein Museum, in welchem ich mich bei jedem neuen Besuch auf eine andere Abteilung konzentriere. Aber auch an Orten, die eher für einen einmaligen Besuch gedacht sind, z.B. eine Burg, kann mir bei jedem neuen Besuch wieder etwas neues auffallen, was mein Wissen rund um diesen Ort dann ergänzt.

Häufig sind Bildungsorte auch nicht die einzigen Wissensvermittler für die Themen, die sie präsentieren oder repräsentieren. In der Freilernerzeit unserer Familie, in der wir besonders häufig andere Bildungsorte aufgesucht haben, hat sich das Angebot eines Ortes oft durch das Lesen von Büchern oder Zeitschriften, Forschen im Internet, Schauen von Filmen, Reflektieren in Gesprächen u.a. erweitert. Nach der Umstellung auf den Euro war das Thema Geld bei uns für einen langen Zeitraum sehr wichtig und dann kam von einem unserer Söhne die Idee auf, das Geldmuseum in Frankfurt zu besuchen. Ich persönlich wäre wohl nie auf die Idee gekommen, dieses Museum zu besuchen, aber schlussendlich bin ich mitgegangen, wie alle anderen Familienmitglieder auch. Wie auch bei anderen Bildungsorten wurde in den anschließenden Gesprächen über den Besuch deutlich, dass jeder von uns einen anderen Themenkomplex interessant fand – sogar ich fand mein Thema – und sich damit auch noch längere Zeit danach auseinandergesetzt hat. Im Gegensatz dazu, sich vom Thema, das einen gerade beschäftigt, zum Besuch eines Bildungsortes anregen zu lassen, kann auch der Besuch eines Ortes dazu führen, sich mit einem Thema zu beschäftigen.

Wir haben in Deutschland schon eine eindrucksvolle Vielfalt an verschiedenen Bildungsorten, die uns oft Themen in anschaulicher Weise vor Augen und Ohren bringen, so dass diese sich noch viel besser vorstellen lassen. Es ist etwas ganz anderes, etwas über die musikalischen Epochen zu erfahren, sei dies nun über ein Buch oder durch einen Lehrer, als die Werke von Komponisten verschiedener Epochen zu hören, am besten live im Konzert gespielt. Ebenso ist es ein Unterschied, etwas über das Leben in der Steinzeit und Eisenzeit zu lesen oder ein Pfahlbaumuseum zu besuchen, in dem ich mir deutlich vorstellen kann, wie die Menschen damals gelebt haben, welche Herausforderung es gewesen sein muss, Nahrung zu beschaffen, Kleidung herzustellen oder auf Reisen zu gehen, ja, den Alltag zu bewältigen.

Trotz der Vielfalt an Bildungsorten, die ich sehr schätze, würde ich mir dennoch weitere Bildungsorte in Deutschland wünschen, an denen der Mensch, egal wie alt er ist, als potentes, selbstverantwortliches, sich bildendes Wesen angesehen wird, an denen er Beratung finden kann oder auch gemeinsam mit anderen lernen kann. Natürlich gibt es solche Orte auch jetzt schon. Sie unterscheiden sich allerdings in grundlegendem Maße von Schulen, in denen nach Lehrplan festgelegtes Wissen vermittelt wird. Bibliotheken sind z.B. solche Orte. Darin steht es jedem offen, sich mit den Büchern oder Medien zu beschäftigen, die einen interessieren. Das führt dazu, dass der eine ganz gezielt in eine bestimmte Abteilung geht, ein anderer schlendert einfach durch die Reihen der Regale, ein weiterer schaut vorwiegend bei den Neuerscheinungen nach und wieder ein anderer schaut konkret nach Titeln oder Autoren im Computer. Auch Bibliothekare, die die Bibliothek betreuen und als Ansprechpartner für die Benutzer da sind, haben ein andere Rolle, als Wissensvermittler oder Lehrer zu sein. Sie nehmen eine dienende Rolle ein, beantworten Fragen und helfen bei der Suche nach bestimmten Büchern oder finden Bücher zu bestimmten Themen. Museen, offene Ateliers oder Werkstätten, in denen die Lerner ihre Interessen verfolgen können, gibt es in unserer Bildungslandschaft schon, letztere allerdings in meinen Augen noch zu wenig. Bei uns im Ort gibt es zwar im Mehrgenerationenhaus ein Reparaturcafé, in dem ich Unterstützung dabei bekommen kann, kaputte Elektrogeräte wieder zu reparieren, aber eine offene Fahrrad- oder Schreinerwerkstatt finde ich im weiten Umkreis nicht. Es wäre ein Gewinn für jeden Einzelnen und unsere Gesellschaft, wenn es für die meisten Menschen solche Werkstätten im erreichbaren Umkreis gäbe. Manche solcher offenen Werkstätten wären aber wohl nur an wenigen Orten realisierbar, da der Unterhalt zu teuer und auch eher ein geringer Bedarf vorhanden ist. Beeindruckt hat mich hier der Bericht meiner Freundin Anne, die als Filmemacherin eine Zeitlang in Südfrankreich gewohnt hat, über ein offenes Filmstudio in Marseille. Anfänger wie Profis konnten dieses Filmstudio nutzen. Sie bekamen Hilfe bei der Nutzung der Geräte und bei den Herausforderungen des Filmemachens, soweit sie diese brauchten.

Prof. Dr. Dr. h.c. Günther Dohmen, der 2001 im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung die, in meinen Augen viel zu wenig beachtete, Schrift „Das informelle Lernen“ herausgegeben hat, entwirft in seiner Schrift „Das informelle Lernen und seine Unterstützung durch kulturelle Initiativen und Bildungszentren“ (http://www.die-frankfurt.de/efil/expertisen/dohmen00_11.htm insbesondere Kapitel 10) Lernlandschaften, von denen wir nur träumen können. Er schreibt: Zu den beliebtesten Freizeittätigkeiten gehören heute wohl der Einkaufsbummel, das „Ausgehen” und die Urlaubsreisen. Und beliebte Freizeitorte sind Fußgängerzonen, Einkaufspassagen, Naherholungsgebiete, Freizeitparks, Ausstellungsanlagen und Ferienregionen. In der US-amerikanischen Erwachsenenbildung wird aus diesen modernen Vorlieben zum Teil die Konsequenz gezogen, die Weiterbildungsinstitutionen müssten sich in Zukunft mehr an den weitverbreiteten Stil des Seh- und Erlebnis-Flanierens anpassen und neue Formen eines Lernens entwickeln, bei dem die Lernenden sich zunächst unverbindlich informieren und orientieren, dann gegebenenfalls etwas auswählen und es, wenn möglich, auch erst einmal für sich zuhause erproben und dann problemlos umtauschen können, um schließlich das endgültig Zusagende nach persönlichen Bedürfnissen, Voraussetzungen, Zeitfenstern etc. im eigenen Lebensrhythmus zu nutzen. Diesem modernen Lebensstil sollen Lernläden, Wissenschaftsläden, Bildungsparks, multikulturelle Restaurants, Internetcafés, Studienreisen, Erkundungsabenteuer etc. entgegenkommen.“

Es folgt eine Beschreibung der verschiedenen von ihm vorgeschlagenen Orte. Dazu gehören dann aber auch Orte, an denen die Menschen nicht nur flanieren und vorbeischlendern, um das für sie Interessante zu finden, sondern auch Orte, an denen die Lerner dann ihre Interessen vertiefen können, sei dies nun für sich allein oder auch in Gemeinschaft mit anderen. Solche Orte könnten an Stadtteil-, Begegnungs- oder Dorfgemeinschaftszentren angeschlossen sein. An diesen Orten könnten die Lerner Beratung finden, Möglichkeit zum gemeinsamen Lernen, andere Menschen, mit denen sie dann gemeinsam ein Thema erarbeiten, „Lehrer“, die einem ein unverständliches Thema erklären oder etwas zeigen, selbst Lernangebote machen oder Beratung in Anspruch nehmen, um den eigenen Bildungsweg zu reflektieren und neue Möglichkeiten zu finden.

Günther Dohmen spricht sowohl von Angeboten des Staates in diesem Bereich als auch davon, dass wir Bürger selbst aktiv werden, um solche Bildungsorte zu schaffen. Werden Menschen selbst aktiv, entstehen dann sehr individuelle Orte und Gemeinschaften, die von den Menschen an diesem Ort geprägt werden. Natürlich sind sie nicht so einmalig, dass sie nicht als Inspiration für andere dienen können. Wenn ich den Wunsch nach einer solchen Bildungslandschaft äußere oder meine Vision beschreibe, habe ich manchmal den Eindruck, dass ich hier von einer Utopie spreche. Doch dann merke ich, dass wir eigentlich nur über den Tellerrand schauen müssen, dann finden wir so etwas schon.

Zum Beispiel habe ich die Home-Education-Gruppen in England als solche Orte bzw. Gemeinschaften empfunden. Die Gruppen waren sich ähnlich und doch war jede dieser Gruppen in ihrer ganz eigenen Art und Weise organisiert. Die eine Gruppe hatte einen festen Ort, an dem sie sich täglich oder an ein paar Tagen in der Woche traf. Oft fanden dort auch Kurse statt wie Englisch, Mathematik, Naturwissenschaften oder Theater. Andere Gruppen organisierten ihre Aktivitäten über Mailinglisten oder Newsletter. Die Aktivitäten wurden jeweils von Eltern, Familien oder Jugendlichen organisiert und fanden entweder bei der organisierenden Familie zu Hause statt oder an anderen Orten wie z.B. im Park, im Museum, im Indoorspielplatz, in der Bibliothek oder im Gemeindezentrum. Mal wurden Lehrer von außen organisiert, mal die eigenen Ressourcen genutzt.

Auch bei John Holt habe ich in einem seiner Bücher von solchen Lerngemeinschaften gelesen. Ich kann mich an die Beschreibung zweier nachbarschaftlich organisierter Stadtteilgemeinschaften in den 1980er Jahren erinnern, die ihre eigenen Lernzentren organisiert haben. In dem einen gab es ein Büro, in dem Lernangebote und -gesuche damals noch in Karteikästen und Anschlagtafeln organisiert wurden. Heutzutage würde man das wohl über eine Webseite organisieren. In dem zweiten Beispiel hat sich die Nachbarschaftsgruppe zwei- oder dreimal im Jahr getroffen, um Bildungswünsche und Angebote in einem großen Plenum herauszufinden, und hat daraufhin für das Semester einen Bildungsplan erstellt.

In dem Buch „Creating Learning Communities“, herausgegeben von Ron Miller, werden sehr viele Bildungsorte vorgestellt, die zum Teil etwas ganz neues gründen wollten, aber zum Teil auch im Rahmen einer bekannten Einrichtung andere als die üblichen Wege gegangen sind. Beschrieben werden Schulen, die neue Wege gehen und ihr Angebot auch anderen als schulpflichtigen Kindern öffnen, Home-Education-Gruppen, Community-Learning-Centers, Ressourcenzentren, Universitäten u.a.

In dem Buch wird auch ein Ort beschrieben, dem sogar ein ganzes Kapitel gewidmet wird, ein Ort, der gar kein Ort ist: die weltumspannenden Online-Netzwerke. In manchen dieser Netzwerke entwickeln tausende von Menschen aus verschiedenen Ländern und unterschiedlichsten Kulturen neue Ideen und Dinge. Fast jeder von uns hat hier die Erfahrung gemacht, wie einfach es ist, im Internet Informationen einzuholen, zu erfragen oder auch weiterzugeben. Aber wahrscheinlich nutzen wir bisher nur einen kleinen Teil der immensen Möglichkeiten.

Manche behaupten ja, wir Freilerner wollten Schulen abschaffen. Und womöglich wären sie in meiner Vision vielfältiger Bildungsorte unnötig. Abschaffen brauchen wir sie nicht. Aber wie in anderen Ländern auch, würden sie von dieser neuen Kultur, die aus der menschenzentrierten Haltung entstanden ist, profitieren und sich dann auch verändern. Und womöglich würde dann ihre jetzige Form an Bedeutung verlieren.

Dieser Artikel ist 2019 in Heft 83 – Bildungsorte erschienen