Spaltung – ja bitte!

Text: Katha Er, Ausgabe Nr. 98

Die sogenannte „Freilernszene“ ist alles andere als homogen. Schon immer gab es in Deutschland problematische Strömungen, die nicht den Willen und das Bedürfnis des jungen Menschen in den Vordergrund stellen, sondern aus einer elterlichen Ideologie heraus handeln oder die Verschwörungserzählungen oder Rechtsesoterik anhängen oder diese verharmlosen. Und dann gibt es natürlich die, die das Recht auf Selbstbestimmung in der Bildung für junge Menschen fordern und deren Aktivismus ein adultismuskritisches, wissenschaftsbasiertes, konsensbasiertes Selbstverständnis zu Grunde liegt. Die letztere Gruppe war es auch, die den Begriff „Freilernen“ in Deutschland maßgeblich prägte, die ihre Kinder in dem deutlichen Willen (zeitweise) nicht die Schule besuchen zu wollen unterstützte und unterstützt, und deren Anliegen absolute Berechtigung hat.

Gerade in den Corona-Jahren hat sich nicht nur die Zahl und die Präsenz der verschwörungsgläubigen „Freilerner*innen“ massiv verstärkt, was für sich gefährlich genug wäre, zunehmend sammeln sich unter dem Begriff „Freilernen“ auch elternideologisch geprägte rechte bis rechtsextreme Akteur*innen. Bezeichnungen wie „Freies Lernen“ oder sogar „selbstbestimmtes Lernen“ werden genutzt in Zusammenhängen mit illegalen Schulgründungen oder Lerngruppen und der sog. Schetinin-Pädagogik, welche viel mehr auf Drill und militärischer Disziplin beruht als auf Selbstbestimmung oder individueller Entfaltung. Auch der Verschwörungsideologe Ricardo Leppe, ein österreichischer Zauberkünstler und Gedächtnistrainer, der offen antisemitische, ableistische, misogyne Inhalte verbreitet und der die antisemitische Neue Germanische Medizin befürwortet wie auch die Anastasia Ideologie, spricht von „freier Bildungsentscheidung“. Mit einer adultismuskritischen, wissenschaftsbasierten Grundannahme hat das freilich nichts mehr gemein, trotzdem dringen diese Strömungen mehr und mehr in die bestehenden Freilernstrukturen ein, oft, vielleicht sogar meist, ohne genügend Gegenwehr.

Die letzten Jahre waren also geprägt von dringend nötigen Abgrenzungsversuchen, Aufklärung und Aufdeckung von problematischen Strömungen und Verflechtungen und einem Bemühen um bessere klare Positionierung. Dass diese Bemühungen in der Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar sind, liegt nicht nur an der prominenten Präsenz der Verschwörungsideolog*innen, sondern ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Adultismus, ohne die eine Kinderrechtsdebatte eigentlich gar nicht möglich sein dürfte, noch ganz am Anfang steht bzw. überhaupt noch nicht richtig begonnen hat. Und die ganze Thematik so ein Nischenthema bleibt, das vor allem Personen und Familien betrifft, deren Lebensweise illegalisiert wird und die ein bedeutendes Mehr an Care-Arbeit verrichten. D.h. ein Voranbringen des Themas ist für viele sowohl eine Ressourcen- als auch eine Sicherheitsfrage.

Der Status quo ist, dass sich viele Aktive, wie z.B. Stefanie Weisgerber, Unschooling Mutter und Betreiberin der Seite Freilerner-Kompass (*), Immanuel Zirkler, selbst ehemaliger Freilerner und Gründungsmitglied des BVNL, wie auch die öffentliche Facebook-Gruppe „Freilernen in Deutschland“ und deren Betreiber*innen sich von einem der großen Verbände der Bewegung, dem Bundesverband Natürlich Lernen e.V. (BVNL), distanziert haben. Auch dass es dringend eine Neuorientierung geben muss, darüber sind viele Aktivist*innen im Konsens.

Dass daraufhin neben zustimmenden und dankbaren Reaktionen auch solche kamen, die dies als Hetze und „von oben“ gewollte Spaltung darstellen wollen, ist in heutigen Zeiten leider nicht verwunderlich. Kritik an öffentlicher politischer Arbeit zu äußern ist weder Hass noch Hetze, sondern schlicht demokratische und demokratieerhaltende Notwendigkeit. Und wenn Strömungen und Akteur*innen Verschwörungsideologien, diskriminierende, menschenfeindliche, rechte Inhalte verbreiten oder diese verharmlosen, wird eben auch eine politische Spaltung zur dringenden Notwendigkeit!

Ein erster Schritt zur klareren Positionierung und Abgrenzung war die Erklärung zum Recht auf selbstbestimmte Bildung. Die Erklärung wurde in den Jahren 2018-2020 von Stefanie Weisgerber, Lothar Kittstein und Immanuel Zirkler initiiert und ausgearbeitet. Die Positionierung spricht sich deutlich gegen jede Verschwörungsideologie und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit aus und formuliert eine klare kinderrechtliche, adultismuskritische Haltung, sie kann seit 2020 öffentlich eingesehen und unterschrieben werden.

Trotzdem müssen wir uns heute fragen, ob dieses Statement als politische Positionierung ausreicht und wirksam ist. Gerade in Zeiten, in denen Begriffe wie Diskriminierung und Ausgrenzung, ja selbst der Faschismus-Begriff, von Rechten versucht werden umzudeuten. Vor allem aber bedingt eine Distanzierung neben klaren Worten auch entsprechendes Handeln.

Im März 2023 erschien auf Belltower News ein Artikel, der zurecht rechtsoffene bis rechte Strömungen unter Freilernenden benennt und kritisiert. Leider bleiben alle Schlussfolgerungen der angesprochenen Aspekte ungenügend differenziert. Es wird darüber berichtet, dass Freilernende meist weiße privilegierte Familien seien. Dieser Kritikpunkt ist durch und durch berechtigt. Das Resümee, dass der Forderung nach selbstbestimmter Bildung daher kein berechtigtes Anliegen zugrunde läge, ist allerdings zutiefst adultistisch und blendet eigentliche strukturelle Gründe für die hauptsächliche Sichtbarkeit privilegierter Familien aus.

Ja, wir müssen über Privilegien reden. Die politische Bildnerin, Künstlerin und Mediatorin Sara Sun Hee Martischius schreibt „wer intersektional denken will, kommt an Adultismuskritik nicht vorbei“. D.h. wir dürfen in unserer Auseinandersetzung mit Privilegien nicht die Ungleichbehandlung und Benachteiligung junger Menschen ausschließen.

Der Begriff Intersektionalität wurde von der Juristin Dr. Kimberlé Crenshaw geprägt und findet seinen Ursprung als Idee in der Schwarzen Feminismus Bewegung (siehe https://editionf.com/dr-natasha-a-kelly-schwarzer-feminismus-buch-interview/). Er beschreibt die Überschneidungen und das Zusammenwirken verschiedener Diskriminierungsformen.

Wir müssen darüber reden, welche Privilegien Erwachsene gegenüber jungen Menschen haben. Dass wir die Macht haben, über ihre Bildungswege zu entscheiden, egal ob es ihnen damit gut geht oder nicht, egal ob sie vielleicht sogar krank oder schlimmstenfalls suizidal werden. Dass wir ihr Erleben permanent relativieren und negieren. Dass wir sie, wenn sie NEIN zur Schule sagen, pathologisieren, zwangsspsychiatrisieren und sogar ins Gefängnis stecken. Und selbstverständlich haben junge Menschen, die nicht nur von Adultismus betroffen sind, sondern auch von anderen strukturellen Diskriminierungsformen wie Rassismus, Antisemitismus, Ableismus, Transfeindlichkeit oder Klassismus u.v.a.m. mit noch mehr Barrieren und Gewalt zu kämpfen, wenn sie sich selbstbestimmt bilden wollen oder müssen. Und genauso betreffen diese Benachteiligungen die Familien der jungen Menschen, wenn diese sich mit Schulen und Behörden auseinandersetzen müssen. Es ist also nicht verwunderlich, dass vor allem Familien mit Privilegien ihren Kindern Selbstbestimmung in der Bildung ermöglichen können und sichtbar sind. Wer nun über Privilegien in Bezug auf selbstbestimmte Bildung sprechen möchte, muss diese gesellschaftlichen Machtstrukturen mitdenken.

Was machen wir nun mit diesen Erkenntnissen und Missständen?

Wir, und ich meine damit ausdrücklich die, die eine adultismuskritische, wissenschaftsbasierte Haltung haben, als Aktive müssen uns kritisch hinterfragen, warum in unseren Räumen hauptsächlich weiße privilegierte Personen sichtbar sind und wie wir unsere Arbeit und Räume für alle, vor allem für marginalisierte und mehrfachmarginalisierte Personen, sicherer und zugänglicher gestalten können, und wie wir unser Handeln diskriminierungssensibel schulen können.

Sich deutlich zu positionieren und von problematischen Strömungen zu distanzieren und selbstverständlich jede Zusammenarbeit mit verschwörungsideologisch oder menschenfeindlich denkenden Akteur*innen zu unterlassen, ist die eine Sache. Wir sollten uns darüber hinaus auch damit auseinandersetzen, wie wir Strukturen schaffen können, die für entsprechende Strömungen überhaupt möglichst unattraktiv werden und alles dafür tun, um diese zukünftig aus unseren Räumen auszuschließen.

Ja, wir brauchen eine Spaltung, wir brauchen aber auch dringend eine sicherere, gerechtere Neuorientierung, denn wer adultismuskritisch denken will, kommt an Intersektionalität nicht vorbei.

(*) der Freilerner Kompass ist derzeit nicht erreichbar, da dieser umfassend aktualisiert und neuaufgesetzt wird. Demnächst wird die Website neu gelauncht.

Dieser Artikel ist 2023 in Heft 98 – Wasser und Land erschienen