Kinderrechte ins Grundgesetz

Text: Immanuel Zirkler, Ausgabe Nr. 87

Die große Koalition vereinbarte 2018, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern1. Das Ziel scheint dabei zu sein, die bestehende Rechtsprechung stärker ins Bewusstsein zu bringen, ohne juristisch wirklich etwas zu verändern.2 Es wurden verschiedene Vorschläge gemacht, zunächst durch Grüne3 und Linke4. Die Linke formulierte bei ihren Anträgen u.a. die Hoffnung, den Staat mit den Kinderrechten im Grundgesetz zu Maßnahmen gegen Kinderarmut zu verpflichten.5 Bundesjustizministerin Christine Lamprecht (SPD) wählte aus verschiedenen Vorschlägen ihres Ministeriums einen aus, der von den Kinderrechts-Verbänden deutlich kritisiert wurde, da diese Variante hinter der bestehenden Rechtsprechung zurück bleibt.6 Nachdem Horst Seehofer (CSU) den Vorschlag von Christine Lamprecht als „ein bisschen zu detailliert und zu weitgehend“ ablehnte, scheint es aktuell unwahrscheinlich zu sein, dass es innerhalb dieser Legislaturperiode noch zu einer Grundgesetzänderung kommt.

Kinderrechte vs. Elternrechte?

Rechte und religiöse Seiten sind in der Debatte um die Kinderrechte im Grundgesetz laut geworden. Bei den Kinderrechten gehe es darum, die Kinder zu verstaatlichen und willkürliche Sorgerechtsentzüge zu ermöglichen. Es gab unter anderem eine Petition an den Bundestag, die von über 75.000 Menschen unterzeichnet wurde. Als Beispiel dafür, was zu erwarten sei, wenn die Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden, wurde in rechten Medien immer wieder „Norwegen“ benannt.7 Kinder würden dort aufgrund der in der Verfassung verankerten Kinderrechte besonders schnell aus ihren Familien genommen.

Einen direkten Zusammenhang zwischen der Praxis der Jugendämter und den Kinderrechten in der Verfassung sehe ich aber nicht. Am Beispiel Norwegen lässt sich dies gut veranschaulichen: So gab es dort im Jahr 2000 eine Gesetzesnovelle, mit der ein größerer Fokus auf präventive Maßnahmen gesetzt wurde. Um Kinder frühzeitig vor möglichem Missbrauch zu schützen, können diese seitdem schneller aus ihren Familien genommen werden.8 Die Kinderrechte wurden dagegen erst 2014 in die Verfassung Norwegens aufgenommen.9

Neben Norwegen gibt es zahlreiche weitere Länder, die Kinderrechte in ihrer Verfassung verankert haben.10 Auch in Deutschland sind Kinderrechte rechtsgültig. Allerdings sind sie nicht im Grundgesetz, sondern im einfachen Bundesrecht festgeschrieben Außerdem haben fast alle Bundesländer zusätzlich noch Formulierungen zu den Kinderrechten in den jeweiligen Landesverfassungen.11

Auch die UN-Kinderrechtskonvention wurde von Deutschland ebenso wie von fast allen anderen Ländern ratifiziert. Lediglich die USA haben diese nicht mitgezeichnet, was wohl nicht zuletzt auch am Engagement von Vereinigungen wie der Homeschooling Legal Defence Association (HSLDA) liegt. Diese setzt sich schon seit langer Zeit für ein „Züchtigungsrecht“ durch die Eltern ein und lehnt die UN-Kinderrechtskonvention als Eingriff in die Elternrechte ab.12

Was bringen die Kinderrechte im Grundgesetz?

Meinem Eindruck nach hängt es sehr von der konkreten Formulierung ab, was die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz in der Praxis bedeuten wird. Als Chance sehe ich dabei die Stärkung der jungen Menschen als Subjekte, die ernst genommen werden müssen. Als Gefahr dagegen sehe ich, dass damit enge paternalistische Interpretationen des Kindeswohles forciert werden und die jungen Menschen noch weniger freie Entscheidungen treffen können.

Die Forderung zur Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz ist inzwischen sehr weit fortgeschritten und wird von einer breiten Basis getragen. Statt zu versuchen, die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz zu verhindern, halte ich es für aussichtsreicher, zu versuchen, auf die konkrete Formulierung der Grundgesetzänderung Einfluss zu nehmen.

Wird mit den Kinderrechten im Grundgesetz eine Altersdiskriminierung festgeschrieben?

Im Grundgesetz ist die Unterscheidung zwischen erziehungsbedürftigen „Kindern“ und Erwachsenen mit dem Artikel 6 GG schon angelegt. Eltern haben demnach nicht nur das das Recht, sondern die Pflicht, ihre Kinder zu erziehen. Weiter steht darin, dass die staatliche Gemeinschaft darüber wacht und die Kinder aufgrund eines Gesetzes ihren Eltern entzogen werden können, wenn die Eltern versagen oder die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

Sowohl die Unterscheidung zwischen zu erziehenden „Kindern“ und anderen Menschen als auch die Möglichkeiten des Staates, im Zweifelsfall einzugreifen, sind damit im Grundgesetz verankert. Wenn nun ein weiterer Absatz dazu käme, der den zu berücksichtigenden Kindeswillen betont, wäre das meinem Eindruck nach ein Fortschritt.

„Kinder sind auch Menschen und brauchen deswegen keine eigenen Kinderrechte“, ist in Diskussionen unter Freilerner*innen ein oft eingebrachter Einwand. Doch wenn es bei der Kritik an Kinderrechten im Grundgesetz um die Unterscheidung zu „Kindern“ geht, die abgelehnt wird, müsste die Forderung dann nicht eigentlich heißen, den Artikel 6 gleich ganz abzuschaffen? Und wenn „Kinder“ ganz grundsätzlich keine eigenen Rechte brauchen, also „Alter“ juristisch gar keine Rolle mehr spielen soll, was würde das dann für andere Rechtsbereiche, wie z.B. das Jugendstrafrecht, bedeuten? Hier vermisse ich aktuelle ausformulierte Forderungen und Konzepte. Leider ist es noch nicht Normalität, dass „Kinder“ ernst genommen werden, weder auf Ämtern und in Behörden, noch in den Familien. Reicht es hier, einfach alle Gesetze zu „Kindern“ zu streichen oder bräuchte es angesichts des Alltags vieler junger Menschen nicht eigentlich sehr explizit formulierte Gesetze, die das für uns Selbstverständliche betonen und ins Bewusstsein bringen?

Für die Streichung der Formulierungen zu „Kindheit“ aus dem Grundgesetz gibt es aktuell weder eine gesellschaftliche Basis noch eine starke politische Kraft, die sich dafür einsetzt.

Aus meiner Sicht bedarf es eines großen gesamtgesellschaftlichen Prozesses hin zu einer freien und solidarischen Gesellschaft, in der es irgendwann nicht mehr wichtig ist, wie alt eine Person ist, sondern was ihre individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten sind.

Gesetze können bei einem solchen gesellschaftlichen Prozess wichtige Impulse setzen und damit Schritte zu einer Gesellschaft sein, die ohne das Konzept der „Kindheit“ auskommt. So haben etwa das Verbot körperlicher Züchtigung und das im November 2000 für junge Menschen eingeführte „Recht auf eine gewaltfreie Erziehung“ bereits dazu beigetragen, dass es immer weniger „normal“ ist, wenn junge Menschen geschlagen werden.

Wie auch bei den Diskussionen um die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens geht es auch bei den Selbstbestimmungsrechten junger Menschen ganz zentral um das Menschenbild und das Vertrauen in den einzelnen Menschen. Freie aktive oder demokratische Schulen tragen dazu ebenso wie Freilern-Familien bei, indem sie zeigen, dass Bildung auch anders stattfinden kann. Die gelebte Praxis und die Erfahrungsräume, die im weiteren Umfeld dann wieder für Diskussionen sorgen, sind für die gesellschaftliche Transformation entscheidend.

Doch wenn mit einer Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz die Selbstbestimmungsrechte der jungen Menschen stärker ins Bewusstsein gebracht werden, wäre auch das ein Schritt in die richtige Richtung und könnte die weitreichende Praxis der Bevormundung von jungen Menschen einschränken. Ein weiterer denkbarer Schritt wäre etwa die Altersgrenzen beim Wahlrecht weiter herabzusetzen. Die Legalisierung von schulfreien Bildungswegen, bei denen junge Menschen selbst entscheiden können, wie, wann und wo sie sich bilden, wäre ein weiterer (voraussichtlich noch ferner) Schritt.

1„Wir werden Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklich verankern. Kinder sind Grundrechtsträger, ihre Rechte haben für uns Verfassungsrang. Wir werden ein Kindergrundrecht schaffen. Über die genaue Ausgestaltung sollen Bund und Länder in einer neuen gemeinsamen Arbeitsgruppe beraten und bis spätestens Ende 2019 einen Vorschlag vorlegen.“ (Aus dem Koalitionsvertrag zur 19. Legislaturperiode zwischen SPD, CDU und CSU vom März 2018, Seite 21)

2Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Kinderrechte ins Grundgesetz“ vom 14. Oktober 2019, Seite 25

3 Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 03.06.2019: dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/105/1910552.pdf

4 Antrag der Fraktion DIE LINKE vom 03.06.2019: dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/106/1910622.pdf

5 „Längst überfällig: Kinderrechte sollten ins Grundgesetz“, Gastbeitrag von Norbert Müller (MdB, Fraktion DIE LINKE) auf diefreiheitsliebe.de/politik/laengst-ueberfaellig-kinderrechte-sollten-ins-grundgesetz

6 Siehe z. B. auf https://www.netzwerk-kinderrechte.de im Blogbeitrag vom 26.11.2019 „Kinderrechte ins Grundgesetz: Bundesjustizministerium hat Referentenentwurf vorgelegt“

7 Bei Plattformen wie CitizenGo, den sogenannten „Eltern für Alle“ und Medien wie EPOCH TIMES unterstelle ich, dass es ihnen nicht um die Rechte junger Menschen und auch nicht um Gleichberechtigung geht. Sie vertreten sonst eigentlich eine eher autoritäre pädagogische Haltung, Traditionen und ihr (aus meiner Sicht teilweise sehr enges) Verständnis von Religion.

8 www.heise.de/tp/features/Norwegens-Kinderschutzbehoerde-auf-der-Anklagebank-in-Strassburg-4573552.html

9 Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Kinderrechte ins Grundgesetz“ vom 14. Oktober 2019, Seite 218

10 Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Kinderrechte ins Grundgesetz“ vom 14. Oktober 2019, ab Seite 211

11 Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Kinderrechte ins Grundgesetz“ vom 14. Oktober 2019 , ab Seite 156

12 Artikel mit dem Wort „spank“ (englisch für „verhauen“) finden sich inzwischen nicht mehr auf der Webseite des HSLDA. Aber mit der Suche nach „HSLDA + spank“ finden sich im Internet noch zahlreiche Verweise auf diese Position. Zur UN-Kinderrechtskonvention gibt es hier einen aktuellen Artikel mit der Position des HSLDA dazu: https://hslda.org/post/treaty-threatens-us-protection-for-children

Dieser Artikel ist 2020 in Heft 87 – Kinderrechte, Kindeswille & Kindeswohl erschienen