Zeit nehmen für die eigenen und gemeinsamen Entscheidungen
Wenn Eltern, ihre Töchter und Söhne auf das Thema »Bildung zu Hause« kommen, und mit der Entscheidung »schwanger« gehen, sich für diese Bildungsform zu entscheiden, ist das der Anfang eines Prozesses, bei dem noch viele kleinere und größere Entscheidungen getroffen werden müssen.
Erschienen 2015 in Heft 66 – Entscheidungen.
Leider ist es eine Illusion, zu denken, es gäbe DEN einfachen Weg, sei dies nun mit einem Umzug ins Ausland oder an einem Ort, wo es hierzulande ohne Probleme praktiziert werden kann.
Die Situation jeder Familie ist so individuell, dass hier auch kein einfacher Rat gegeben werden kann. Jede Familie muss ihren eigenen Weg finden. Egal für welchen Weg man sich entscheidet – auszuwandern, hier in Deutschland unterzutauchen oder sich in Deutschland den Auseinandersetzungen mit den Behörden zu stellen – es ist ein Weg in ein »unbekanntes Land« und kann zu einem herausfordernden Abenteuer werden, einem Abenteuer, an dem ich, meine Kinder und mein Partner wachsen können oder wir feststellen, dass dieser Weg doch nicht zu uns passt und eine neue Entscheidung getroffen werden will.
Auswandern
In ein anderes Land auszuwandern, ist eine solch grundlegende Entscheidung, die nicht alleine von den positiven Bildungsgesetzen eines Landes abhängt. Es braucht einen gewissen Konsens von allen Familienmitgliedern für das Land, für das man sich dann schlussendlich entscheidet. Es gibt vorher viele, viele Fragen zu klären: Sind überhaupt alle bereit, den bisherigen Ort zu verlassen? Ist es möglich, Freunde und Verwandte zurückzulassen und diese nur ab und an zu sehen? Wo wollen wir wohnen – am Meer, in den Bergen, in der Stadt oder auf dem Land, auf einer Insel oder auf dem Festland? Wollen wir andere Freilerner in der Nähe haben? Sind wir alle bereit, die Sprache des Landes zu lernen und uns in die Kultur hineinzufinden? Gibt es Hilfe, z.B. Verwandte oder Freunde in der Nähe, die uns bei den Anfangsschwierigkeiten helfen können? Wie sind die Bildungsgesetze im anderen Land und vor allem, wie werden diese gehandhabt?
Der Umzug in ein anderes Land muss sich nicht unbedingt als der einfachere Weg erweisen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, er birgt viele Herausforderungen, die natürlich bewältigt werden können, aber auch vor Ort Unsicherheit und Angst auslösen können, womit sowohl Eltern als auch Töchter und Söhne nicht gerechnet haben. Bei unserem Umzug nach England standen wir ziemlich schnell vor einem herausfordernden Thema. Eine Wohnung zu mieten war nicht einfach und erschien uns zuweilen als unüberwindliches Hindernis. Privatvermietungen gibt es quasi nicht, alles läuft über einen Makler. Üblich sind Halbjahresverträge und wenn man kein Einkommen bzw. keine Arbeit vorweisen kann, dann bekommt man die Wohnung nicht. Eine Arbeitsstelle bekommt man nicht, ohne eine Wohnung nachweisen zu können und um das Gehalt überwiesen zu bekommen, braucht man ein Bankkonto. Dieses bekommt man aber nur, wenn man mindestens zwei Rechnungen, die man für Nebenkosten und Telefon bezahlt, vorweisen kann. Dafür braucht man aber eine Wohnung. Wir hatten das Glück, mit dem Darlehen eines Verwandten, der uns das Geld für die Miete für ein halbes Jahr vorgeschossen hat, die Wohnung finanzieren zu können und damit wurde uns der Anfang in England leicht gemacht.
Auch die sprachlichen Hürden sollten nicht unterschätzt werden. Obwohl wir alle Englisch konnten, war es in der Anfangszeit sehr anstrengend, sich dort dann auch zurechtzufinden: viele Wörter haben gefehlt. In der Anfangszeit waren wir alle noch nicht sehr geübt im Umschreiben von unbekannten Wörtern. Gespräche mit einzelnen waren gut möglich, aber in der Gruppe habe zumindest ich mich oft heillos verloren gefühlt. Es war eine immense Konzentrationsarbeit, ansatzweise mitzubekommen, worum es in den Gesprächen ging, zumal ja in einem normalen Gespräch regelmäßig die Themen wechseln und wenn du nicht aufpasst wie ein Fuchs, dann findest du dich plötzlich in einem ganz anderen Thema wieder und weißt nicht, wie dahin gekommen wurde. Ich hatte oft nach zwei Stunden spätestens einen Brummschädel. Aber das Schöne war, zu spüren, dass es sich stetig besserte, sowohl das Verständnis als auch das Sprechen.
Meines Erachtens ist es ganz wichtig, sich über die aktuellen Gesetze in Bezug auf Bildung zu Hause im bevorzugten Land kundig zu machen. Es muss ja nicht sein, dass man sich plötzlich einer ähnlichen Situation gegenübersieht, wie man sie in Deutschland vor Augen hat. Nur kommt dann in einem anderen Land noch die Schwierigkeit dazu, dass man sich für sein Tun in einer anderen Sprache verantworten muss. Es reicht nicht, dass man sich vorher hier in Deutschland bei anderen Familien oder Menschen, die schon im Ausland waren, kundig macht. In den letzten 14 Jahren haben sich viele der europäischen Gesetze in Bezug auf Bildung zu Hause geändert. Es kann daher sein, dass diejenigen, die hier in Deutschland beraten, nicht auf dem aktuellen Stand jedes Landes sind, auch wenn sie sich darum bemühen. Sinnvoller ist es, sich im Land bei Home Education Vereinen nach dem aktuellen Stand zu erkundigen. Wesentlich ist die Auslegung der Gesetze bzw. der Umgang der Behörden mit den Familien, nicht nur der reine Gesetzestext.
Ob man mit den Menschen im Land und deren Anderssein zurechtkommt, wird sich letztendlich erst nach einigen Monaten entscheiden. Uns ging es in England gut, die Offenheit und Toleranz den verschiedenen Lebensentwürfen gegenüber kam uns sehr entgegen. Es war für uns gut möglich, rasch Kontakte zu bekommen, es hat allerdings längere Zeit gedauert, bis die Kontakte dann auch zu guten Freundschaften wurden; aber letzteres trifft auch zu, wenn man hierzulande umzieht. Von anderen Familien habe ich mitbekommen, dass diese enttäuscht zurück nach Deutschland kamen, oft weil sie mit der Andersartigkeit der Menschen und den gebräuchlichen Umgangsformen im anderen Land nicht zurechtkamen.
In Deutschland untertauchen
Sich als beruflich reisend zu erklären und sich dennoch die meiste Zeit in Deutschland aufzuhalten oder durch mehrere Umzüge und Abmeldungen quasi keinen Wohnsitz mehr zu haben, sehen viele als die einfachste Möglichkeit. Ich kenne viele Familien, die Bildung zu Hause jahrelang ohne Schwierigkeiten »im Untergrund« praktizieren. Zu bedenken ist allerdings, mit welchem Gefühl Töchter und Söhne aufwachsen. Sie müssen meistens den gesamten Morgen im Haus verbringen, damit sie nicht auffallen, was für freiheitsliebende junge Menschen schon eine echte Einschränkung sein kann. Aber was fast noch schwerer wiegen kann, sind die Antworten, die man auf die so normalen Fragen gibt: »Ja, wo gehst du denn zur Schule?« oder »Bist du denn heute nicht in der Schule?« Mehrere junge Menschen haben mir erzählt, dass es ihnen nicht gutgetan hat, dass sie mit einer ständigen Lüge leben mussten.
Viele Familien fühlen sich mit dieser Lösung vermeintlich sicher und machen sich kaum Gedanken darüber, was passiert, sollten die Behörden doch aufmerksam werden. Nicht wenige Familien sehen sich dann plötzlich der Situation gegenüber, dass sie durch Nachbarn, Freunde oder Familienmitglieder angezeigt wurden. Dann heißt es, sich entweder jetzt mit den Behörden auseinander zu setzen oder einen schnellen Weg ins Ausland zu finden. Der Großteil der Familien ist in dieser Situation verständlicherweise so überfordert, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen können, um in dieser Situation angemessen zu reagieren. Unbedachte Äußerungen und Handlungen passieren dann schnell. Familien, die diesen Weg wählen, sollten vorher einen Plan B zusammenstellen, der es ihnen ermöglicht, in der adrenalinschwangeren Atmosphäre bedacht zu handeln.
Sich in Deutschland mit den Behörden auseinandersetzen
Dieser Weg macht den allermeisten Familien große Angst, auch wenn erfreulicherweise doch immer wieder Eltern und zum Teil auch Jugendliche bereit sind, sich auf diese Herausforderung einzulassen. Viele dieser Ängste beruhen auf zu wenig oder falschen Informationen. Es kann eine der größten Entwicklungs- und Lernaufgaben von Eltern sein, sich in diesem Bereich die notwendigen, vor allem rechtlichen Informationen anzueignen, eine eigene zielführende Argumentation zu entwickeln und diese auch klar zu äußern. Ich selbst habe es als Weg zur Selbstermächtigung erfahren, meine Haltung insbesondere gegenüber jungen Menschen zu festigen und Wege zu finden, diese in der Gesellschaft so zu äußern, dass sowohl Verständnis entgegengebracht als auch ein Ziel erreicht wird. Ich empfinde diese Entwicklung sehr bereichernd für mein gesamtes Leben.
Infomaterial über den BVNL oder die Freilerner-Solidargemeinschaft oder Gespräche mit anderen Freilernern können eine erste Grundlage an Informationen bieten. Beide Vereine unterstützen auch im finanziellen Bereich und bei Gesprächen mit Behörden. Die aktive eigene Auseinandersetzung und das Einbringen können sie einem aber nicht abnehmen.
Überwältigende Ängste vor den Gesprächen mit Behörden oder vor Gerichtsverhandlungen können über Rollenspiele beim Prozesstraining und auch andere Methoden des Umgangs mit dem Gefühl Angst abgebaut werden, so dass sie einen in der Situation nicht mehr überwältigen.
Auch wenn es manchen aufgrund der gesetzlichen Regelungen und deren Auslegung aussichtslos erscheint, diesen Weg zu gehen, lohnt es sich nicht nur für einen selbst. Es braucht Hartnäckigkeit, das gebe ich zu, aber es ist jetzt schon zu erkennen, dass sich in diesem Bereich schon einiges getan hat. Und auch die Arbeit des gewaltfreien Widerstands hat über die Jahrzehnte hinweg gezeigt, dass Änderungen passieren.
Wer weiß schon, wie sich die Situation entwickelt, aber es kann ohne weiteres passieren, dass man auf der unteren Ebene womöglich eine Vereinbarung mit der Schule schließen kann. Aber ich werde nicht erfahren, was passieren kann, wenn ich es nicht ausprobiere.
Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, sich mit allen Familienmitgliedern zusammen genügend Zeit für die eigene Entscheidung zu nehmen. Wenn eine stimmige Entscheidung gefunden wurde, dann kommen sicher noch genügend Herausforderungen auf einen zu, aber sie sind einfacher zu nehmen.
Karen Kern
Weiterführende Verlinkungen:
Herausfinden, was ich tun möchte – Artikel von Josias Kern in der OYA
Besser lernen ohne Schule? – Artikel mit Karen Kern auf Heise.de
Freilerner-Solidargemeinschaft e. V.
Freilernen als Akt des zivilen Ungehorsams