Freilernen und Schutz vor Isolation und Indoktrination – ein unzulässiges Schwerpunktthema

Text: Christiane Ludwig-Wolf , Ausgabe Nr. 84

Ich finde den Titel gefährlich und unzulässig, weil er impliziert, dass durch Lernen ohne Schule junge Menschen besonders gefährdet seien. Es bestätigt bestehende Ängste und Vorurteile und wenn wir selber schon davor warnen, muss ja wohl wirklich was dran sein.

Bildung und Kindeswohlgefährdung sind zweierlei Dinge und dürfen nicht vermischt werden. Für den Schutz vor einer möglichen Gefährdung der Kinder ist das Jugendamt zuständig. Wenn ein begründeter Verdacht vorliegt, darf und muss dieses eingreifen. Allerdings nur, wenn wirklich ein Hinweis auf eine mögliche Gefährdung vorliegt. Es dürfen nicht alle Eltern unter den Generalverdacht gestellt werden, sich nicht ordentlich um ihre Kinder zu kümmern oder sie sogar aktiv zu verletzen und zu gefährden. Das muss ebenso für Freilernerfamilien gelten. Familien und alle Menschen brauchen einen Schutzraum, eine Privatsphäre, in der sie keinen Kontrollen ausgesetzt sind und sich nicht rechtfertigen müssen, für das was sie tun. Die meisten Eltern kümmern sich um ihre Kinder, ebenso wie die meisten Menschen keinen Banküberfall machen und niemanden vergewaltigen. Obwohl es Menschen gibt, die solche Taten vollbringen, muss ich nicht ständig erklären, dass ich nicht zu diesen gehöre – es ist selbstverständlich, so lange nicht das Gegenteil offensichtlich wird. Ich erwarte, dass mir genauso wenig unterstellt wird, dass ich als Freilernermutter meine Kinder isoliere, indoktriniere oder gar Schlimmeres. Ich muss mich von solchen Dingen nicht distanzieren – es ist selbstverständlich, dass ich das weder mache, noch gut heiße!

Freilernen und Isolation und Indoktrination haben nichts miteinander zu tun. Zumindest in dem Sinne, wie ich Freilernen verstehe und nach außen vertrete, wäre es ein klarer Widerspruch.

Es gibt schon lange, vielleicht sogar schon immer, Gruppen, die die Bezeichnung „Freilerner“ verwenden und damit nur „frei von Schule“ meinen. Publik oder gebräuchlich wurde dieser Name zuerst über das gleichnamige Buch von Dagmar Neubronner (Wir Freilerner – unser Leben ohne Schule, 2008). Dagmar verwendete den Namen durchaus in dem Sinne, den ich auch damit verbinde. Dass Dagmar Neubronner sich inzwischen, oder auch schon länger, in Kreisen bewegt, die ich ablehne und als gefährlich erachte, ist ein anderes Thema. Eine Zeit lang hatte sich die sogenannte Unschooling-Bewegung und die eher christlich orientierte Homeschooling-Bewegung etwas angenähert und war im Austausch miteinander. Einen deutlichen Bruch gab es mit der Organisation der Global Home Eduaction Conference in Berlin (2012). Diese wurde maßgeblich von der HSLDA, einer rechts-christlichen und in den USA recht einflussreichen Homeschooling-Gruppe, finanziert und beeinflusst. Damals wollten und mussten wir uns davon deutlich distanzieren. Wobei durchaus auch viele aus der christlichen Homeschooling-Bewegung die Ansichten und Machenschaften dieser Gruppe für gefährlich hielten.

Früher hatte ich auch Berührungsängste zu christlich orientierten Homeschoolern, die häufig ihre Kinder richtig unterrichten und denen vieles in normalen Schulen zu frei ist. Also so ziemlich die gegenteilige Begründung zu meiner. Schriften von Herrn Stücher (Philadelphia Schule) bestätigten meinen Argwohn. Da wird zum Beispiel gefordert, dass die Jungs kurze Haare zu tragen haben und die Frauen, selbstverständlich in traditioneller Familien-Mutter-Rolle lange Röcke tragen sollten. Und die erste christliche Homeschooling-Familie, die mir begegnete, passte auch in mein Bild. Der Vater besuchte uns und ließ während des sicher zwei Stunden dauernden Gesprächs, seine beiden Buben im Auto warten. Kontakt mit meinen Kindern wollte er offensichtlich vermeiden. Die älteren, erwachsenen Kinder der Familie, wandten sich ans Familiengericht, weil sie ihre jüngeren Geschwister aus dieser Familie retten wollten, bzw. erreichen wollten, dass diese eine Schule besuchen dürfen. Damals (2001/2002) fiel uns das auf die Füße. Zeitgleich mit dieser Familie hatten wir ein familienrechtliches Verfahren beim selben Richter. Der uns gegenüber recht wohlwollende Richter, der zunächst einen Sorgerechtsentzug ausschloss, hat dann auch uns das Sorgerecht in Teilen entzogen.

Später lernte ich viele christliche Homeschooling-Familien kennen und hatte bei aller Unterschiedlichkeit immer den Eindruck, dass die Eltern liebevoll um ihre Kinder bemüht waren und sich gut um sie kümmerten und keine Probleme hatten, wenn unsere Kinder zusammen spielten.

Der Schulanwesenheitszwang ist ein massiver Eingriff in die Grundrechte junger Menschen und auch deren Familien. Dieser ist nur gerechtfertigt, wenn es keine Alternativen dazu gibt. Mögliche Alternativen müssen an der Realität von Schule gemessen werden und nicht an deren Idealbild. Auch in Schulen gibt es VerliererInnen, erleben junge Menschen Gewalt, fühlen sich alleine und isoliert und der jeweilige Schulstoff gilt als absolute Wahrheit, die in Klassenarbeiten abgefragt und deren korrekte Wiedergabe bewertet wird. Die meisten Menschen haben in außerschulischen Zusammenhängen mehr Kontakte zu Menschen unterschiedlicher Herkunft und sozialer Zugehörigkeit als innerhalb von Schulen und Klassenverbänden. In Schulklassen sind Menschen einer Altersstufe zusammengefasst. Die Grundschulen sind Wohnbezirken zugeordnet, woraus sich ergibt, dass in der Regel Kinder einer sozialen Schicht zusammen kommen. In weiterführenden Schulen wird dann nach Leistung und nach zukünftigen Berufsmöglichkeiten sortiert. Die Gründung von privaten Schulen ist möglich und somit zum Beispiel auch erlaubt, dass eine strenge christliche Familie ihre Kinder auf eine strenge christliche Schule schickt. Internatsschulen wie Schloß Salem können sich nur sehr reiche Familien leisten. Genau dies ist eigentlich im Grundgesetz ausgeschlossen wo es in Art. 7 Absatz 4 heißt „Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn […] eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird.“

Dies wird jedoch umgangen, indem die Schule einen recht niedrigen Grundpreis angibt und alles was die Schule eigentlich ausmacht, teuer dazu gebucht werden muß. Offensichtlich wird dieser Trick von den Behörden akzeptiert. Ebenso wie geduldet wird, dass schulpflichtige junge Menschen „internationale Schulen“ besuchen. Damit ist die Schulpflicht eigentlich überhaupt nicht erfüllt. Sie sind keine genehmigten Ersatzschulen und könnten auch gar nicht genehmigt werden, weil sie ebenso viel zu teuer sind und außerdem gar nicht nach deutschen Lehrplänen unterrichten. Und so lange Gruppen wie „Agnus Dei“ Schulen betreiben dürfen, braucht niemand Freilernereltern vorwerfen, dass sie ihre Kinder zu sehr isolieren und indoktrinieren.

In einer vielfältigen und offenen Gesellschaft sind unterschiedliche Lebensmodelle erlaubt und sogar gewollt. Ich darf mich mit Gleichgesinnten zusammentun, darf religiös oder wie auch immer orientiert sein, Lebensgemeinschaften gründen, eine passende Schule gründen.

Natürlich habe ich bestimmte Vorstellungen wie Leben gelingt und was nötig ist um glücklich zu sein und ein gutes Leben zu leben. Und natürlich habe ich Ängste, von was dieses bedroht sein könnte. Und selbstverständlich versuche ich meine Kinder vor diesen zu schütze. Kein Mensch würde seinen Kindern erlauben auf der Autobahn zu spielen. Natürlich fände ich es bedrohlich, wenn meine Kinder Kokain und Heroin konsumieren würden oder mit Freunden zusammen wären, die sie dazu drängten. Natürlich wäre ich äußerst beunruhigt, würden sich meine Kinder in Kreisen bewegen, die Gewalt verherrlichen und ausüben.

Obige Beispiele sind wohl unter den meisten Menschen Konsens und haben auch strafrechtliche Folgen, für die die das deutlich anders sehen. Anderes ist individueller und die eigenen Grenzen und Vorstellungen sind sehr unterschiedlich. Rahmenbedingungen werden immer von Erwachsenen gesetzt und Kinder werden da hinein geboren. Alleine durch ihr Dasein bringen sie Veränderung und je nach Offenheit der Eltern ändert sich mit der Zeit vielleicht auch manche Rahmenbedingung. Die Verantwortung für diesen Rahmen bleibt jedoch bei den Eltern.

Ökologische Themen sind mir wichtig und eine radikale Haltung dazu, auch was den eigenen Lebensstil angeht, halte ich für überlebensnotwendig. Dafür, dass ich meine Kinder nicht impfen lasse, habe ich gute Gründe, die rein gar nichts mit irgendwelchen Verschwörungstheorien zu tun haben. Medien wie PC und Handy bergen meiner Meinung nach große Gefahren. Sie sind oft manipulativ, beanspruchen viel Zeit und sind für die Gehirnentwicklung, insbesondere von sehr jungen Menschen, nicht gerade förderlich. Ich halte viele konkrete Erfahrungen und das konkrete Tun wesentlich für Menschen. Ich finde es wichtig, im Kontakt mit der Natur zu sein, deren Teil wir sind und die unsere Lebensgrundlage darstellt.

Unsere Welt ist insgesamt sehr undurchschaubar. Gelogen und manipuliert wird an allen Ecken und Enden. Lobbyisten haben Einfluss auf die Politik. Pharmakonzernen unterstelle ich, dass sie deutlich mehr Interesse an ihrem Gewinn als an der Rettung von Menschenleben haben. Ob Impfserum verkauft wird oder Waffen, ist einerlei. In einer Welt, deren wesentliche Grundlage Wachstum ist, kämpfen alle – Konzerne, kleinere Betriebe und einzelne Menschen – um den eigenen Vorteil, ja häufig sogar ums Überleben. Da sind dann alle Mittel recht. Die unglaublichsten Dinge passieren und sind erlaubt oder werden heimlich gemacht und kommen nur zufällig ans Licht. Wer will da zwischen echten und falschen Nachrichten und Informationen unterscheiden? Wem wollen wir vorwerfen, dass er Fake News glaubt? Auch wissenschaftliche Forschung kommt teilweise zu widersprüchlichen Ergebnissen und was gestern noch offiziell als wahr angenommen wurde und wissenschaftlich fundiert, muss es heute lange nicht mehr sein. Wir wollen verstehen, was ist, wie die Welt funktioniert und da sind geschlossene Erklärungssysteme einladend. Auch ich begegne manchen Menschen, die von Thesen, die zu den rechten Verschwörungstheorien gezählt werden, überzeugt sind. Wenn unsere Verfassung nicht gültig ist, was ist dann gültig? Die Verfassung aus dem Kaiserreich? Und manche krönen gleich einen neuen König. In diesen Kreisen werden dann eben auch sehr völkische, rassistische, menschenverachtende Thesen vertreten. Das halte auch ich für sehr gefährlich und dagegen gilt es klar Stellung zu beziehen.

Neu indessen sind solche Mischungen keineswegs. Schon in meiner Schulzeit Ende der siebziger Jahre warnte unser Lehrer vor denen, die sich für den Schutz der Umwelt und für Ökologie einsetzen und darüber die ersten 60 Seiten schreiben und auf den letzten 20 Seiten davon erzählen, dass genauso notwendig wie der Schutz der Natur, der Schutz der deutschen Rasse sei.

Die meisten Menschen, denen ich begegne, vertreten jedoch nur Teile von diesen angeblichen Fakten und sind keineswegs fremdenfeindlich oder antidemokratisch eingestellt. Sie gehen gut mit ihren Kindern um und sind auch sonst angenehme Menschen. Und es sind bei weitem nicht nur Freilerner, die dazu neigen, solche Fakten ernst zu nehmen.

Freilernen löst weder alle Probleme, noch sind Freilerner die besseren Menschen. Auch hier gibt es Menschen, die völkische, menschenverachtende Meinungen haben. Auch hier gehen Eltern schlimm mit ihren Kindern um, manipulieren sie und übersehen oder missachten deren Bedürfnisse. Mit Sicherheit kann es auch im strafrechtlichen Sinne Kriminelle unter Freilernern geben. Es gibt Eltern, denen ihre Kinder aus vielen anderen Gründen, als dem fehlenden Schulbesuch entzogen wurden, und die hoffen, Unterstützung in der Freilernerbewegung zu finden. Es gibt auch radikale Gruppen, die sich aufs Freilernen beziehen und schlimmen Einfluss auf ihre Kinder ausüben. Das jedoch ist ein gesellschaftliches Thema, das in fast allen Kontexten vorkommt. Reichsbürger bei der Polizei und Bundeswehr sind auch überdurchschnittlich vertreten. Das ist wahrlich besorgniserregend und gefährlich. Auch wir müssen hinschauen, den Mund aufmachen, wenn was nicht stimmt, widersprechen wenn unsägliche Aussagen gemacht werden. Und wenn es angesagt ist, muss auch eingegriffen werden. Genauso wie in allen anderen Lebensbereichen, in Schulen wo Mobbing stattfindet, in Sportvereinen oder kirchlichen Gruppen, wo Missbrauch stattfindet, auf Campingplätzen oder in ganz normalen Familien.

Die Idee Freilerner in gute und schlechte unterscheiden zu wollen, die Bewegung sauber halten zu wollen, um nicht in Verruf zu geraten, halte ich für abwegig. Voraussetzung für eine solche Idee ist eine starke Idealisierung von Freilernen – die Hoffnung sich eine heile Welt erhalten zu können. Die gibt es nicht, auch nicht unter Freilernen. Da tun sich ebenso viele Abgründe auf, wie im Rest der Gesellschaft. Wir haben alle unsere Probleme, unsere Macken und Kanten und müssen akzeptieren, dass nie alles nur gut ist. Wir machen es, so gut es uns möglich ist, wie andere auch.

Kontrollen machen die Welt nicht besser und werden auch keinen Missbrauch von Freiheiten verhindern. Wer Böses im Schilde führt, wird sich zu helfen wissen und Lücken finden. Sicher gibt es nette Menschen bei den Jugendämtern. Jedoch gibt es auch manche, die wenig verstehen, was wir machen und es für gefährlich halten, die sich festhalten an den ungewohnten Dingen, dem Chaos das entsteht, wenn viele Aktivitäten gleichzeitig laufen, den ungeputzten Fenstern, dem Familienbett, den fehlenden Impfpässen und den barfuß laufenden Kindern. Ich will niemanden im Haus haben, der mich hier kontrolliert und dem ich mich erklären muss. Und manchmal ist es für Menschen vom Jugendamt auch einfacher, sich um solche Menschen wie uns zu kümmern und wo es wirklich schlimm ist, nichts zu tun. So suchte zur gleichen Zeit, da uns das Sorgerecht entzogen wurde, ein Nachbarsjunge, dessen Eltern soffen und ihn schlugen, Zuflucht bei uns. Wir riefen das Jugendamt an und baten um Unterstützung. Die Familie sei bekannt, da könnten sie nichts machen, wurde uns erklärt.

Und Kontrollen zur Bildung sind noch viel schwieriger. Wer hat schon eine Ahnung von informellem Lernen. Da sind wir ja selber immer wieder am Schauen, am Ringen um Vertrauen wenn unser Zwölfjähriger immer noch nicht liest, am Suchen an was es liegt, wo Blockaden versteckt sein könnten, wo wir trotz allem doch unbemerkt Druck ausüben, wo es zu wenig Anregungen gibt oder was auch immer. Von staatlichen Schulbehörden da eine angemessene Begleitung zu erwarten, halte ich für sehr unrealistisch. Schon die Erfahrungen von freien aktiven oder demokratischen Schulen zeigen, dass ihnen wenig entgegengekommen wird und häufig erwartet wird, dass sie das gleiche wie in staatlichen Schulen machen, egal wie sehr es ihren zuvor genehmigten Konzeptionen widerspricht.

Abgesehen davon dass ich zur Zeit überhaupt nicht erkennen kann, dass Kultusministerien bereit wären, sich auch nur auf irgendeine Art von Freilernen einzulassen, befürchte ich, dass eine aktuelle Lösung nicht ermöglichen würde, weiterhin frei zu lernen und zumindest Familien wie wir, die wirklich nicht unterrichten, schwieriger da stehen würden als bisher.

Wir müssen uns unseren Freiraum erkämpfen und nehmen. Wenn wir darum bitten, einen zu bekommen, wird er nicht dem entsprechen, was wir uns gewünscht und erhofft haben. Falls uns überhaupt einer zugestanden wird, würde er nach den Vorstellungen der Schulbehörden gestaltet sein.

Wenn genügend Menschen einstehen, für das was sie wollen und machen, wären wir, denke ich, relativ bald in einer sehr anderen Situation. Das bedeutet nicht, dass uns irgendwer erlaubt, das zu tun, was wir tun. Wir tun es einfach und nehmen die Konsequenzen in Kauf und reden öffentlich darüber. Das würde Veränderung bewirken.

Und statt uns von allem möglichen abzugrenzen, tun wir das, was wir für richtig halten und sprechen darüber. Wir schaffen Raum für eine bessere Welt. Eine Welt, die auf gegenseitige Rücksichtnahme baut, in der es um Kooperation und gegenseitige Unterstützung geht, in der alle ein Lebensrecht haben, die von der Fülle und dem „genug für alle“ ausgeht, in der Gefühle erlaubt sind und in der wir gemeinsam am Forschen sind und uns austauschen über die bestmöglichen Lösungen.

Diesen Raum schaffen wir in uns, in unseren Familien und unserer Umgebung, in Internetforen und in der Freilernerzeitschrift. Und damit nehmen wir eindeutig Stellung für was wir stehen.

Dieser Artikel ist 2019 in Heft 84 – Schutz vor Isolation & Indoktrination erschienen