Freilernen in Potsdam und Berlin

Was den Wohnort angeht, bin ich immer wieder hin- und hergerissen zwischen dem Leben in der Natur und dem Leben in der Stadt. Ich sehe bei beidem die Vorteile und möchte gerne das Beste aus beiden Welten zusammenbringen. Wir leben aktuell in der Stadt und ich habe fast mein gesamtes Leben in der Stadt verbracht. Aber nach einem Jahr, in dem ich mitten in der Natur gelebt habe, kenne ich auch die schönen Seiten des Lebens auf dem Land.

In der Stadt, und vor allem einer Großstadt, sehe ich viele Vorteile. Zum Beispiel, dass man gerade als alternativ lebender Mensch gut Anschluss finden kann an Gleichgesinnte. Ich höre oft von alternativ eingestellten Menschen, die in kleinen Städten oder auf dem Land leben, dass sie beäugt werden von den häufig konservativ eingestellten Mitmenschen. Oder, dass »selbst wenn« ein respektvoller Umgang herrscht, dennoch der Anschluss fehlt an Gleichgesinnte, mit denen man ganz entspannt reden kann, z. B. über das Freilernen – ohne ausgiebig erklären zu müssen, warum man kritisch gegenüber der Schule eingestellt ist oder warum Vorurteile gegenüber dem Freilernen nun einmal nichts anderes als Vorurteile sind.

Wir treffen uns regelmäßig mit anderen Familien, die ähnlich eingestellt sind wie wir, und ich sehe darin nicht nur für uns Eltern Möglichkeiten des Austauschs, sondern auch für die Kinder die Möglichkeit, sich nicht alleine zu fühlen und Anschluss zu finden. Und dass sie dabei viel mehr sie selbst sein können. In der Großstadt ist es nicht allzu ungewöhnlich, wenn Kinder tragen, was sie wollen – unabhängig von ihrem Geschlecht. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn ein Kind spätabends noch mit den Eltern unterwegs ist, wenn ein dreijähriges Kind gestillt wird oder wenn man vegan lebt. Man kann viel mehr sein, wie man sein möchte und sich frei entfalten und entwickeln. Und selbst wenn man mal unfreundliche Kommentare erntet, dann bietet einem die Anonymität der Großstadt – die auch ihre Nachteile hat – einen Schutz. Wenn es einen negativen Kommentar gibt, geht man eben weiter, steigt aus der Bahn oder dreht sich weg. Es gibt keine Notwendigkeit, sich mit abwertenden Menschen dauerhaft zu umgeben. Es sei denn, sie sind die unmittelbaren Nachbarn. Das kann schon deutlich unangenehmer werden und dann ist der Wunsch nach einem einsamen Haus mitten im Nirgendwo wahrscheinlich besonders groß.

Diese Mischung aus Anonymität einerseits und der Fülle an Gleichgesinnten andererseits ist für mich an der Großstadt sehr attraktiv. Andererseits fehlt es aber auch oft an einem festen sozialen Netz, der Gemeinschaft, dem Clan – oder wie auch immer man es nennen mag. Die Beziehungen sind oft deutlich loser als sie es auf dem Land wahrscheinlich sind. Dennoch gibt es einen Spielraum, um dem auch in der Stadt entgegen zu wirken. Z. B. mit Familien-WGs, wie wir nun in einer leben, oder mit Kollektiven und gemeinsamen Projekten, an denen man als Gemeinschaft wachsen kann.

Wir sind in Potsdam und Berlin eingebettet sowohl in eine Freilerner-Gemeinschaft als auch in andere Gemeinschaften, wie z. B. vegane Familientreffen oder unerzogen-Treffen. Wir treffen uns da abhängig vom Wetter zu Hause, im Park, am See oder im Spielecafé. Kürzlich waren wir im Naturkunde-Museum und ich möchte den kalten Winter gerne dazu nutzen, solche Angebote noch mehr aufzusuchen. Da gibt es in Potsdam und Berlin unzählige Entdeckungsmöglichkeiten. Auch die Kollektive, die durch freilernende Familien und Menschen entstanden sind oder betrieben werden, bieten viele Möglichkeiten, z. B. die Lernwerktstatt und der HandlungSpielRaum in Berlin. In Potsdam treffen wir uns regelmäßig im nicht-kommerziellen und ehrenamtlich betriebenen Familiencafé Madia. Dort haben die Kinder auch die Möglichkeit, hautnah zu erleben, wie der Betrieb eines Cafés läuft, und damit gibt es viele Lernsituationen, die sich ganz natürlich ergeben beim Kochen, Berechnen der Ein- und Ausgaben, Bestellung des Essens, Sauberhalten des Cafés usw.

In Bezug auf das Freilernen hat die Großstadt viel zu bieten: Museen, Bibliotheken mit einer großen Auswahl an Büchern, verschiedene Kursangebote, Theater, Konzerte und andere kulturelle Angebote – es gibt viel zu entdecken. Gerade wenn die Kinder sehr spezielle Interessen entwickeln, bietet die Stadt viele Angebote, um sich selbst mit außergewöhnlichen Themen intensiv zu befassen.

Unser Kind liebt z. B. Musik und Tanz. In der Stadt gibt es verschiedene Möglichkeiten, diesen Interessen nachzugehen – ob nun beim Beobachten von Straßenmusiker*innen oder Breakdance- Shows, bei Konzerten, Trommel- Festivals oder Jam-Sessions. Nun kommt er allmählich in ein Alter, in dem man ihm auch weitere Angebote machen kann, wie z. B. Tanzkurse oder Unterricht in einem Instrument. Auch wenn er sich (weiterhin) vollständig autodidaktisch bilden möchte, bietet die Stadt viele Möglichkeiten, sich Tänze, Instrumente oder Musikrichtungen mal live anzuschauen, um sich davon inspirieren zu lassen.

Ein weiterer, mir wichtiger Aspekt ist die Vielfalt anderer Menschen. So wie wir in der Stadt mehr wir selbst sein können, können das auch andere. Und somit trifft man auch auf eine Vielfalt an Menschen. Zum Stadtbild gehören Menschen unterschiedlicher Herkunft, Haut- und Haarfarbe, Religion, Menschen unterschiedlicher Schichten, sogenannte Behinderte, Menschen unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlicher Sexualität. Weltoffenheit lässt sich leichter vorleben, wenn sich diese tatsächlich in der Umwelt wiederfindet. Auf dem Land sieht es oft leider ganz anders aus. Viele meiner Bekannten sind dort hauptsächlich von weißen, christlichen Menschen ohne Migrationshintergrund umgeben, die sich in heterosexuellen und monogamen Beziehungen befinden, die sich »ganz normal« kleiden usw. Damit möchte ich nicht Menschen kritisieren, die nun einmal so sind und leben. Aber dadurch fehlen die Vorbilder im Außen, um wirklich frei so zu sein, wie man sein möchte. Ich höre leider öfter von sehr unangenehmen Situationen vom Leben auf dem Land oder im Dorf, weil z. B. Jungs lange Haare haben und gerne Kleider tragen, oder wenn Menschen eine dunklere Hautfarbe haben oder wenn sie sich in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft befinden. Vor allem aber fehlt der direkte Austausch mit eben diesen unterschiedlichen Menschen und ihren Lebenswirklichkeiten und Erfahrungen.

Eine Kritik an der Stadt ist oft das Fehlen der Natur. Doch auch in der Stadt kann man der Natur nah sein – ob nun auf dem Hinterhof oder im Park, wo es Dutzende von Tieren und Pflanzen zu entdecken gibt, oder wenn man noch tiefer in die Natur fährt, in den Wald oder an den See oder einmal ganz weit aufs Land. Diese Optionen stehen für Stadtmenschen offen und sind sehr häufig auch ohne Auto gut zu erreichen.

Dennoch sehne ich mich nach einem Leben inmitten der Natur und mit mehr Freiraum direkt um uns herum. Nachdem ich ein Jahr im Zelt in Südspanien verbracht habe, ist diese Sehnsucht noch stärker. Ich mag dieses Gefühl sehr, der Natur so viel näher zu sein. Und ich denke, dass es auch für Kinder sehr bereichernd ist, sowohl für die psychische als auch physische Gesundheit.

In diesem Jahr im Zelt habe ich aber auch gemerkt, welche Aspekte des Lebens in der Stadt mir doch auch sehr fehlten: Eben der oben genannte Anschluss an Gleichgesinnte, die kulturellen Angebote und ganz allgemein die Möglichkeiten, sich weiterzubilden und zu lernen. Wegen dieser Aspekte bin ich zurück nach Berlin gegangen, da es mir nicht gut ging. Ich lebte zwar in einer Kommune, doch die meisten Menschen waren dort trotzdem sehr anders eingestellt als ich und hatten andere Vorstellungen vom Leben in der Kommune.

Ich wünsche mir im Grunde eine Mischung aus Leben auf dem Land und Leben in der Stadt. Einen ganz kleinen Schritt haben wir gemacht durch das Leben in Potsdam. Wir sind den vielen Angeboten Berlins immer noch sehr nahe, und auch Potsdam selbst hat einige Optionen. Dennoch ist alles etwas entspannter und übersichtlicher als in Berlin. Und man ist der Natur und der frischen Luft deutlich näher.

Jedoch handelt es sich dabei um einen wirklich nur kleinen Schritt. Ich freue mich auf den großen Schritt: Dem Leben in einer Gemeinschaft in der Natur, aber auch nahe einer größeren Stadt, deren Angebote man nutzen kann. Wenn die Gemeinschaft groß genug ist, kann man auch selbst viele Angebote, eine kulturelle und vielfältige Umgebung und Lernorte schaffen. Das wäre für mich das Optimum: Gemeinschaft, Gleichgesinnte, Natur, aber auch Kultur, Vielfalt und Möglichkeiten, sich weiterzubilden. Bis dahin möchte ich gerne mit dem Bus reisen, und mal in Städten und mal auf dem Land sein, um auf diese Art und Weise schon einmal das Beste aus beiden Welten genießen zu können.

Angelika Dottai

Liberate Your Family! Über den Versuch, das Familienleben von Konventionen zu befreien.
www.familyliberation.org

Der Artikel ist 2016 in Heft 72 – Stadt-Land-Fluß – Lebensorte erschienen.