Interview mit Gertrud Eichinger (SPD)

Gertrud Eichinger (SPD) wurde von Thomas Ziehl für die Freilernerzeitschrift interviewt.

Interview: Thomas Ziehl

Thomas Ziehl: In den Grundlagen des BayEUG werden als oberste Bildungs- und Erziehungsziele unter anderem die Ehrfurcht vor Gott und die Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk genannt. Ist das in Ihren Augen noch zeitgemäß oder bedarf es einer grundlegenden Reform?

Gertrud Eichinger: Die Formulierungen wirken heute sicherlich antiquiert. Es gilt ja die Religionsfreiheit, so dass Liebe zu Gott wohl eher als Spiritualität zu verstehen ist. Die Liebe zur Heimat kommt automatisch, und ist meines Erachtens etwas, das eher durch das Elternhaus und die Identifikation mit dem Umfeld vermittelt wird, nicht so sehr durch die Schule.

Thomas Ziehl: Die Grundrechte von jungen Menschen werden durch die rigide Schulpflicht massiv beschnitten. Beispielsweise müssen nun zahlreiche Schülerinnen und Schüler mit disziplinarischen Maßnahmen rechnen, da sie sich an dem Bildungsstreik mit dem Motto »Bildung statt Abschiebung« beteiligt haben. Ist das gerechtfertigt?

Gertrud Eichinger: Die Teilnahme junger Menschen an solchen Veranstaltungen kann viel zum Erlernen demokratischer Prozesse beitragen. Repressalien auf Grund der Schulpflicht sind hier fehl am Platz. Die Schulpflicht ist und bleibt aber wertvoll, da sie das Recht der Kinder auf Bildung sichert.

Thomas Ziehl: Das Recht auf Bildung finde ich auch wichtig, wenn ein Recht aber zum Zwang wird, finde ich das problematisch.

Gertrud Eichinger: Wie man’s nimmt, der Schüler ist verpflichtet, die Schule zu besuchen, dass er dort auch tatsächlich etwas lernt, dazu kann ihn niemand zwingen.

Thomas Ziehl: Schulen sind zumeist sehr undemokratisch organisiert und die jungen Menschen haben dort oft nur wenig Möglichkeiten, sich zu beteiligen. Gleichzeitig wird aber der Anspruch erhoben, dass (nur) die Schule der richtige Ort sei, demokratische Grundwerte zu vermitteln. Wie passt das zusammen?

Gertrud Eichinger: Der Behauptung, dass Schulen undemokratisch organisiert sind und dort keine demokratischen Werte vermittelt werden, möchte ich widersprechen. Man denke an Dinge wie z.B. die Schülermitverwaltungen, auch wenn diese je nach Schule sehr unterschiedliche Mitspracherechte und Stellenwerte haben. Richtig ist, dass Demokratie gelebt, nicht nur gelehrt werden muss, das ist gewiss noch weiter ausbaufähig.

Thomas Ziehl:Entscheidend ist ja auch, dass die Vorschläge und Ideen der jungen Menschen ernst genommen werden, und dass eben auch mal etwas davon umgesetzt wird. Ich denke da an die Jugendparlamente, die es in einigen Städten gab, und die dann häufig wieder verschwunden oder weitgehend eingeschlafen sind, weil sie einfach nichts bewirken konnten.

Gertrud Eichinger: Das ist, denke ich, ein wechselseitiger Prozess. Einerseits müssen die Vorschläge der Realität soweit standhalten, dass sie auch umsetzbar sind, andererseits, da gebe ich Ihnen vollkommen recht, müssen die jungen Menschen natürlich spüren, dass sich auch ernsthaft mit ihren Ideen auseinandergesetzt wird. Das ist in der Schule sicher genau dasselbe.

Thomas Ziehl:Heute wurde über die Rechtmäßigkeit der Schließung der Sudbury-Schule am Ammersee durch die Regierung von Oberbayern verhandelt. Der Vorwurf an die Sudbury-Schule war unter anderem, dass der Bayerische Lehrplan nicht eingehalten worden sei.

Gertrud Eichinger: Von solchen Projekten kann man bestimmt sehr viel lernen, auch wenn sie sicher nicht für alle Kinder geeignet sind. An neu gegründeten Schulen ist es aber sicher einfacher, demokratische Prozesse einzuführen, da an bestehenden Schulen erfahrungsgemäß Gestaltungsmacht ungern geteilt oder abgegeben wird. Speziell in Bayern dürfte es aber noch ein langer Weg dahin sein, dass in Schulen mehr Räume für gelebte Demokratie geöffnet werden.

Thomas Ziehl: Brauchen wir in Bayern eine vielfältigere und lebendigere Bildungslandschaft?

Gertrud Eichinger: Diese Frage möchte ich bejahen. Allerdings nicht in Form von noch mehr unterschiedlichen Schultypen, sondern innerhalb bestehender Schulen. Hier möchte ich die Eltern auch ermutigen, selbstbewusster aufzutreten und einzufordern, dass auf die Bedürfnisse ihrer Kinder ganz individuell mehr eingegangen werden muss. Ich sehe daher die Zukunft eher in der Umgestaltung der bestehenden Schulen, als in der Gründung neuer alternativer Schulen.

Thomas Ziehl: Warum finden Sie mehr unterschiedliche Schulformen nicht sinnvoll?

Gertrud Eichinger: Weil ich es einfach wichtig finde, dass die Kinder möglichst wohnortnah unterrichtet werden können und nicht eine Ewigkeit zur Schule fahren müssen. Sicher stimmt es aber, dass Regelschulen eben oft überreglementiert sind und viele Kinder damit nicht zurecht kommen.

Thomas Ziehl:Wenn es aber mehr alternative Schulen gäbe, müssten die jungen Menschen auch nicht mehr so weit fahren, um dort hinzukommen.

Gertrud Eichinger: Das ist natürlich richtig, es ist aber eben auch eine Frage der Finanzierung.

Thomas Ziehl: Die Gründung von alternativen Schulen ist in Bayern mit großen Hürden verbunden. Ein Beispiel dafür ist die Montessori-Wildnisschule in Taufkirchen/Vils, deren Genehmigung nun erneut verweigert wurde. Muss das Verfahren für Schulgründungen vereinfacht werden?

Gertrud Eichinger: Ja, es wäre sinnvoll, das Genehmigungsverfahren für Schulneugründugen zu vereinfachen. Auch die SPD hat ja versucht, einige Pilotprojekte im Bereich von Gemeinschaftsschulen zu starten, wo die Kinder von der 5. bis zur 9. Klasse gemeinsam lernen. Martin Güll hatte bereits zwei Bürgermeister und Schulen für dieses Projekt gewonnen, wurde aber ausgebremst. So etwas finde ich bedauerlich, denn solche Schulen würden die Schullandschaft durchaus bereichern. Es wäre auch eine Möglichkeit, Schulleitern und Schulfamilien mehr Freiraum dahingehend zu geben, zu entscheiden, wie an ihrer Schule unterrichtet und gelernt/gelehrt werden soll.

Thomas Ziehl:Sollten in einer bunten Bildungslandschaft auch Bildungskonzepte, die ohne den Besuch eines Schulgebäudes funktionieren, ihren Platz haben?

Gertrud Eichinger: Da bin ich ganz ehrlich doch sehr skeptisch. Der Schulbesuch dient ja nicht nur dem Bildungserwerb, sondern auch der Einübung sozialer Kompetenzen außerhalb des Elternhauses, auch und gerade in einer Gemeinschaftssituation, wo man sich die beteiligten Personen nicht aussuchen kann. Daher halte ich eine Bildung ohne regelmäßigen Schulbesuch wirklich nur in besonderen Ausnahmesituationen, wie z.B. im Falle einer schweren Erkrankung oder bei Auslandsaufenthalten für sinnvoll.

Thomas Ziehl: Das ist natürlich das gängige Bild. Soziales Leben findet ja aber überall statt, nicht nur in der Schule.

Gertrud Eichinger: Aber es braucht einfach eine größere Gemeinschaft dafür. Das Problem bei zu Hause lernenden Kindern wäre ja dann, dass die anderen Kinder alle in der Schule sind.

Thomas Ziehl:Dieses Problem bedingt sich natürlich durch das bestehende System. In Ländern, in denen Freilernen erlaubt ist, wie z.B. Großbritannien, Kanada oder Irland, bildet sich auch eine entsprechende Infrastruktur, ohne dass man Zwangsgemeinschaften wie in der Schule bilden muss.

Gertrud Eichinger: Aber Zwangsgemeinschaften habe ich doch überall.

Thomas Ziehl: Wenn man es genau betrachtet, gibt es kaum Situationen, wo ich keine Wahl habe. Einen Arbeitsplatz, an dem ich mich permanent unwohl fühle, und unter dem ich leide, kann ich beispielsweise kündigen.

Gertrud Eichinger: Ja, das ist aber eine Sache des Erwachsenseins. Ich denke wirklich, dass ein Nichtschulbesuch die absolute Ausnahme für besondere Lebenssituationen sein sollte. Besser sollte es an Schulen mehr multiprofessionelles Personal (Psychologen, Logopäden etc.) geben, das hilft herauszufinden, warum ein Kind nicht mehr zur Schule gehen mag, so dass die Probleme (z.B. Mobbing) benannt und beseitigt werden können. Ich glaube, an der Bearbeitung und Behebung solcher Probleme kann die ganze Klassengemeinschaft lernen und davon profitieren.
Ich kann aber nachvollziehen, dass Eltern, die alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, die unser System bisher bietet, irgendwann nach ganz anderen Wegen für ihre Kinder suchen.

Thomas Ziehl: Warum werden solchen Familien dann bei uns von Behördenseite künstlich noch mehr Probleme bereitet? In den meisten anderen europäischen Ländern, wäre es in solchen Fällen (oder auch von vornherein) möglich, dass der junge Mensch sich ohne Schulbesuch bildet. Es ist doch seltsam, dass bei uns Familien kriminalisiert werden, wenn die Kinder nicht zur Schule gehen, würden sie aber 150 km weiter südlich wohnen, gäbe es legal die Möglichkeit, zu Hause zu lernen.

Gertrud Eichinger: Ich habe da jetzt auch viele Familien im Kopf, bei denen ich mir das gut vorstellen könnte. Als Jugendreferentin habe ich aber eben auch ganz andere Fälle gesehen, wo Eltern schlichtweg überfordert sind und ihre Kinder daher einfach gewähren lassen, wo Alkoholprobleme eine Rolle spielen etc. Daher würde ich diesen Bereich niemals ganz öffnen. Ich möchte es eher so betrachten, dass der Wunsch von Menschen, sich außerhalb der Schule zu bilden, ein Ausdruck dessen ist, dass es in unserem Bildungssystem viele, viele Baustellen gibt. Gerade im Hinblick auf die Möglichkeit, selbstbestimmt zu lernen und sich auch aktiv einzubringen. Wenn ich an den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel, dem wir uns gegenüber sehen, denke, dann sind wir geradezu verpflichtet, unser bisheriges Bildungssystem wesentlich umzugestalten. Da ist es um so wichtiger, dass starke Kinder heranwachsen, die über sich selbst und ihre Fähigkeiten Bescheid wissen, die mit Neugier und Kreativität ihr Leben gestalten können.

Thomas Ziehl: Eine komplette Abschaffung der Schulpflicht wäre ja auch gar nicht unbedingt nötig. Wichtig fände ich, dass Ausnahmen möglich sind. Familien, die sich fürs Freilernen entschieden haben, dies schlüssig begründen können und sich mit dem, was sie tun offen zeigen, sollten keine Repressalien fürchten müssen. Ich denke, dass die Möglichkeit, frei sich zu bilden in unserer Gesellschaft auch wichtige Impulse setzen kann, nicht nur im Bezug auf die Frage, wie Bildung zu organisieren sei, sondern auch im Bezug auf das Menschenbild, das wir haben. Warum gesteht man jungen Menschen viele Rechte nicht zu, die man Erwachsenen ganz selbstverständlich zugesteht? Warum traut man ihnen so wenig zu?

Der Artikel ist 2018 in Heft 80 – Wie frei kann Schule sein? erschienen.

Gertrud Eichinger: Es kommt dabei immer auch auf das Alter der Kinder an. Ich habe schon oft erlebt, dass Kinder mit zu viel Entscheidungsfreiheit einfach überfordert sind, oder dass Eltern selbst schlichtweg sich nicht darum kümmern, wichtige Entscheidungen in Bezug auf ihre Kinder zu treffen oder sich mit diesen ernsthaft auseinander zu setzen. Bei den Freilerner-Familien, an die Sie denken, ist das aber sicher nicht der Fall. Dort ist es, denke ich, klar, dass diese Bildungsform aus tiefer Überzeugung gewählt wurde, und dass der Nichtschulbesuch der Kinder nichts mit der Unfähigkeit oder dem Unwillen der Eltern zu tun hat, sich mit ihren Kindern auseinanderzusetzen, ganz im Gegenteil. Trotzdem bin ich der Ansicht, dass Familien und junge Menschen, für die diese Bildungsform funktioniert, absolute Ausnahmeerscheinungen sind. ◼

Gertrud Eichinger ist Landtagskandidatin in Bayern der SPD für den Wahlkreis Erding. Sie ist 52 Jahre alt und Mutter von zwei Kindern.
Thomas Ziehl engagiert sich in Bayern für das Thema Freilernen. Derzeit versucht er, mit Politkern ins Gespräch zu kommen, um sie zu überzeugen, dass Freilerner nicht kriminalisiert werden sollten. Er ist 39 Jahre alt und Vater zweier Kinder.

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