Vertrauen – ein gemeinsamer Nenner des Freilernens und der Alexander-Technik

Erschienen 2014 in Heft 62 – Vertrauen.

Was ist die Alexander-Technik? Die gefürchtete, unvermeidliche Frage. Nicht einfach zu beantworten, weil man die Alexander-Technik am besten am eigenen Körper erlebt. Die Erfahrung in Worte zu fassen ist ein schwieriges Unterfangen. Alexander-Technik-Lehrer Michael Gelb vergleicht es mit dem Versuch, jemandem, der noch nie einen Ton gehört hat, Musik zu erklären. Die Alexander-Technik ist eine Methode, deren Anwendung es uns ermöglicht, alles im Leben mit mehr Leichtigkeit und weniger Anstrengung zu tun. Mit der Alexander-Technik erlernen wir keine neue Fähigkeit, sondern wir lernen, wie wir mehr praktische Intelligenz in unser tägliches Tun einfließen lassen können; wie wir stereotype Reaktionen unterbinden; wie wir mit Gewohnheit und Veränderung umgehen können.1

Seit ich vor zwei Jahren an meinem ersten Alexander-Technik-Workshop teilgenommen habe, stelle ich immer wieder begeistert fest, wie gut sie in unser Freilerner-Leben passt und wie viele Berührungspunkte es zwischen der Alexander-Technik und dem Freilernen gibt. Das fängt schon mit dem Schulbesuch des Begründers an: Frederick Matthias (F.M.) Alexander, geboren 1869 in Tasmanien, hat den überwiegenden Teil seiner Kindheit und Jugend keine Schule besucht. Die verschiedenen Quellen geben hierfür allerdings unterschiedliche Gründe an. Teils heißt es, Alexander habe als Kind eine schwache Gesundheit gehabt und sei aus diesem Grund von seiner Mutter zuhause unterrichtet worden. Eine zweite Version ist, dass Alexander ein aufgewecktes, sensibles und nach Aufmerksamkeit heischendes Kind gewesen sei und daher ein schwieriger Schüler. Sein Lehrer sei jedoch ein verständnisvoller Mann gewesen, habe Alexander vom Schulbesuch entschuldigt und ihm statt dessen abends Einzelunterricht erteilt. In wieder anderen Quellen lesen wir, dass Alexander, angetrieben von Neugier und Wissbegierde, mit seinen ständigen Fragen den Unterricht gestört habe und sein Lehrer ihn daher des Unterrichts verwiesen und in die Bibliothek geschickt habe, wo er sich über die Jahre quer durch den Bestand gelesen habe. Welche dieser Versionen der Wahrheit am nächsten kommt, lässt sich nicht mehr nachvollziehen – Tatsache scheint aber zu sein, dass F.M. Alexander nicht viel Zeit im Schulunterricht verbracht hat.

Schon in seiner Jugend begeisterte sich Alexander für Shakespeare und machte das Rezitieren von Shakespeares und anderen Werken schließlich zu seinem Beruf. Im Laufe der Jahre plagten ihn zunehmend Stimmprobleme, doch Ärzte und Stimmtrainer konnten keine Abhilfe schaffen. Als Alexander während eines wichtigen Auftritts wieder heiser wurde, obwohl er im Vorfeld alle medizinischen Ratschläge gewissenhaft befolgt hatte, stellte er seinem Arzt am nächsten Tag die entscheidende Frage: „Kann es sein, dass die Heiserkeit durch etwas hervorgerufen wird, das ich mit mir selbst mache, während ich rezitiere?“ Der Arzt bejahte dies, wusste jedoch nicht zu sagen, was genau das sein könnte. Alexander zog daraus eine Schlussfolgerung, die mir für einen Freilerner so typisch zu sein scheint: „Wenn das so ist, dann werde ich es eben selbst herausfinden.“

Mit diesem Entschluss begann die jahrelange Erforschung, die Alexander in seinem Buch „Der Gebrauch des Selbst“ Schritt für Schritt beschreibt. Auf dem richtigen Weg war er nach zahlreichen Umwegen, Sackgassen und Teilerfolgen schließlich, als er erkannte, dass Vertrauen eine zentrale Rolle spielt in der Art, wie wir uns steuern und wie wir mit uns selbst umgehen. Und zwar spricht Alexander von einem echten, ungeteilten Vertrauen. Es solle nicht halbherzig sein und zusätzlich der Unterstützung durch ein „Sich-richtig-Anfühlen“ bedürfen.2 Genauso wünsche ich mir das Vertrauen in das Lernen und die Entwicklung unserer Kinder – ein ungeteiltes Vertrauen, kein halbherziges Vertrauen, das „sicherheitshalber“ doch noch ein Anleiten und Kontrollieren erfordert. Wie wäre es, wenn wir darauf vertrauen würden, dass Kinder lernen wollen, dass sie ein natürliches Bedürfnis haben, in die Gesellschaft hineinzuwachsen, und sich aneignen werden, was sie zum Leben brauchen? Wie würde sich unsere Gesellschaft verändern, wenn wir unseren Kindern zutrauen würden, ihren eigenen Weg zu finden? In Deutschland geben wir Kindern und Jugendlichen derzeit nicht einmal den rechtlichen Rahmen, frei zu lernen. In Österreich und in vielen anderen europäischen Ländern ist häuslicher Unterricht zwar per Gesetz erlaubt, zum Schuljahresende muss jedoch der „zureichende Erfolg“ durch eine Prüfung nachgewiesen werden. Den Kindern wird im häuslichen Unterricht wie in der Schule per Lehrplan vorgeschrieben, was sie wann zu lernen haben, und am Ende des Jahres wird überprüft, ob sie tatsächlich gelernt haben, was wir ihnen von außen vorgegeben haben. Wir trauen den Kindern und Jugendlichen als Gesellschaft nichts ZU und wir VERtrauen ihnen nicht. Um den amerikanischen Golftrainer Harvey Penick zu zitieren: „Ich werde häufig gefragt, wann man Kindern beibringen sollte, Golf zu spielen. Es gilt für alle das Gleiche: bringe Deinen Kindern in dem Moment das Golfspielen bei, in dem sie es lernen möchten!“ Wir brauchen nicht im vorhinein den Zeitpunkt festlegen, wann Kinder was lernen sollen, und es ist für den natürlichen Lernprozess eher hinderlich, wenn wir immer wieder eingreifen und Wissen abfragen.

Alexander nahm bei seiner Kritik an der Schule kein Blatt vor den Mund: „Warum sollte die Intelligenz des Kindes nicht trainiert werden? Warum sollte es in seiner Entwicklung gehemmt werden, indem wir es zwingen, vorgefasste Meinungen und Traditionen zu übernehmen, die von Generation zu Generation weitergereicht werden, ohne sich damit auseinander zu setzen, ohne die Vernunft einzusetzen, ohne zu hinterfragen, ob sie wahr sind oder woher sie kommen.“3 Seine Vorstellung von Bildung war eine ganz andere. Er war überzeugt, dass wir mit dem Potenzial geboren werden, auf der Grundlage unserer Vernunft und unserer Intelligenz freie Entscheidungen zu treffen und dass Bildung zum Ziel haben sollte, dieses Potenzial auszuschöpfen: „Ich hoffe auf eine Zeit, in der Kinder so unterrichtet und ausgebildet werden, dass sie, ungeachtet der Umstände, die sie später umgeben werden, in der Lage sein werden, sich in ihrem Leben ohne Mühe perfekter Gesundheit zu erfreuen, physisch und mental.“4

In der Alexander-Technik geht es darum, Glaubensgrundsätze und unser Verständnis der Welt anzukratzen. Als Freilerner stellen wir den Glaubensgrundsatz in Frage, dass Lernen so oder so aussehen muss. Zum Beispiel: Nur wenn ein Kind am Schreibtisch sitzt und Arbeitshefte ausfüllt, findet Lernen statt. Oder: Zum Erlernen einer fremden Sprache gehört das Auswendiglernen von Vokabeln und Verbtabellen. Der Kern jeder Alexander-Technik-Stunde ist, dass der Schüler die Erfahrung macht, eine Aktivität auf eine andere als die gewohnte Weise auszuführen. Es wird abgewichen von der alten, instinktiven Art und Weise, auf die der Schüler bisher die gewählte Aktivität ausgeführt hat. Wenn er nun, angeleitet durch den Alexander-Technik-Lehrer, diese Aktivität anders ausführt, fühlt sich das für ihn erst einmal neu und ungewohnt und damit falsch an. Als Freilerner weichen wir von dem Konzept ab, wie Bildung in den letzten 200 Jahren in industrialisierten Ländern weitergegeben wurde. Da ist es nicht verwunderlich, dass wir zunächst zweifeln, ob Lernen so funktionieren kann, denn es ist ungewohnt und anders als wir es aus unserer Kindheit kennen. Und ebenso, wie es in der Alexander-Technik nicht den einen richtigen Weg gibt, eine Aktivität auf eine neue Art und Weise auszuführen, sondern der Schüler eingeladen wird, mit verschiedenen neuen Varianten zu experimentieren, so gibt es auch nicht die eine richtige Art und Weise, wie Freilerner lernen sollten, sondern jede Familie kann mit verschiedenen Ideen experimentieren und herausfinden, was zu welchem Zeitpunkt für sie am besten passt.

Hilfreich ist bei der Entwicklung des Vertrauens auch die „Ein-Jahres-Regel“, von der wir in der Interaktiven Unterrichtsmethode für die Alexander-Technik sprechen. Alexander schreibt: „Das Übel einer schlechten persönlichen Gewohnheit zeigt sich nicht in einem Tag oder in einer Woche, vielleicht nicht einmal innerhalb eines Jahres. Dies gilt genauso für den positiven Effekt einer guten Gewohnheit.“5 Lernen braucht Zeit. Und es will nicht kleinschrittig überprüft werden. Es gibt keinen Grund, enttäuscht zu sein, wenn sich Veränderungen, die man sich durch die Alexander-Technik erhofft, nicht gleich nach der ersten Stunde einstellen. Vielmehr ist es sinnvoll, den Veränderungen, die durch die Alexander-Arbeit in Gang gesetzt werden, Zeit zur Entfaltung zu geben. Wir sollten lieber mit dem Abstand eines Jahres zurückschauen und überlegen, ob wir heute noch so sind, wie wir vor einem Jahr waren. Oder haben wir uns verändert? Geht es mir heute besser und fallen mir Dinge leichter als noch ein Jahr zuvor? Das Gleiche trifft auch auf das Freilernen zu. Aus der Nähe eines jeden einzelnen Tages betrachtet, kann es uns erscheinen, als wenn ein Freilerner nicht viel lernt, weil die Materialschlacht der Stoffbewältigung, die wir aus der Schule kennen, nicht stattfindet. Es wird nicht ein Arbeitsblatt nach dem anderen ausgefüllt und es werden keine Pensenpläne abgearbeitet. Und doch, wenn wir einen Schritt zurücktreten und den Freilerner von heute mit dem Freilerner vor einem Jahr vergleichen, sehen wir deutlich die Entwicklung. Das Kind oder der Jugendliche mag neue Fähigkeiten erworben haben, neue Verhaltensweisen an den Tag legen, und es mögen sich neue Interessen aufgetan haben. Auf jeden Fall hat mit großer Wahrscheinlichkeit Veränderung stattgefunden, auch wenn sie Tag für Tag kaum spürbar war.

Die Selbstverantwortung ist eine der Schlüsselideen der Alexander-Technik. Laut Alexander sind wir nicht nur verantwortlich für bestimmte Probleme, die wir selbst verursachen – wie er beispielsweise seine Heiserkeit, sondern wir sind auch für unsere Erfolge verantwortlich. Ich empfinde es als wertvolles Geschenk, wenn wir unseren Kindern die Erkenntnis mit auf den Weg geben können, dass sie selbst am Steuerrad ihres Lebens sitzen. Jeder von uns spielt die Hauptrolle in seiner eigenen Lebensgeschichte, und als Hauptakteur, als derjenige, der die Entscheidungen trifft, haben wir großen Einfluss darauf, wie unser Leben verläuft. Das mag zunächst beängstigend klingen, weil es einfacher erscheint, Verantwortung auf andere abzuwälzen. Aber es ist gut so, denn wenn ein anderer Mensch oder äußere Umstände dafür verantwortlich wären, wie es uns geht oder was wir erreichen im Leben, dann wären wir darauf angewiesen, dass sich dieser andere Mensch oder die Umstände ändern, bevor unser Leben besser werden kann. Doch in Wirklichkeit haben wir es selbst in der Hand, wie wir unser Leben gestalten.6 Dazu gehört auch, nicht darauf warten zu müssen, dass uns jemand etwas beibringt. Es liegt vielmehr an jedem Einzelnen, seine besonderen Talente und Fähigkeiten zu entdecken und auszubauen. In Alexanders Augen ist es das höchste Ziel des Menschen, dass jeder Einzelne sein volles Potenzial entfaltet.

Autorin: Stefanie Mohsennia

1 vgl. Jones, Frank Pierce: Freedom to change, S. 2

2 vgl. Alexander, F.M.: Der Gebrauch des Selbst, S. 42

3 vgl. Alexander, F.M.: Man’s Supreme Inheritance, S. 89

4 vgl. Alexander, F.M.: Man’s Supreme Inheritance, S. 95

5 vgl. Alexander, F.M.: Man’s Supreme Inheritance, S. 7

6 vgl. Weed, Donald L.: Reach your dreams, S. 54/55