Ohne Schule mitten im Leben – in Irland gehen Freiheit und Verbundenheit zusammen

Text: Marlene, Ausgabe Nr. 100

Als ich ungefähr 10 Jahre alt war, las ich „Sturmkinder“ von Marita Conlon-McKenna. Die herzzerreißende Geschichte dreier Waisenkinder während der irischen Hungersnot zog mich so sehr in den Bann, dass ich noch heute beim Vorlesen jedes Wort fühle wie damals. Nach diesem ersten Kontakt mit irischen Erzählungen folgten weitere – Sagen, Lieder und Bildbände. Als wäre ein Teil von mir eigentlich in Irland zuhause, stellte ich mir bei jedem Spaziergang die grüne Hügellandschaft vor, durchbrochen von niedrigen Steinmauern, halbverfallenen Häusern, sprudelnden Bächen und Weißdornhecken. Doch trotz meiner großen Sehnsucht brachte das Leben mich zuerst an andere Orte: verschiedene europäische Länder, Kanada und immer wieder Ägypten, das Geburtsland meines Partners. Dazu kamen all die Aufgaben und Verpflichtungen, die ich mir nur mit halben Herzen ausgesucht hatte (Stichwort Lebenslauf) und anderes immer wichtiger erschienen ließen. Irland wurde zu einem fast vergessenen Traum, der irgendwo ganz hinten in meinem Bewusstsein verstaubte.

Bis zu dem Tag, an dem meinem Mann und mir klar wurde, dass wir Deutschland verlassen mussten, wenn wir unsere Söhne und uns nicht durch eine jahrelange Tortur von Fremdbestimmung, struktureller und emotionaler Gewalt quälen wollten. Zuerst suchten wir für ein halbes Jahr Zuflucht bei der Schwiegerfamilie in Ägypten, die uns warm und herzlich aufnahm. Die Kinder lernten dort fließend Arabisch und knüpften tiefe Beziehungen zu ihren Verwandten. Nach einer Weile spürten wir jedoch alle den Wunsch nach einem neuen Zuhause in Europa – und mein alter Traum von Irland erwachte zum Leben. Nach wenigen Wochen hatte ich über Facebook Kontakt zu verschiedenen Home- und Unschooling-Gruppen in Irland aufgenommen und begann mich über Jobmöglichkeiten und Wohnungssuche zu informieren. Zwar wurde ich vor der aktuellen Wohnungsnot gewarnt, doch die Rückmeldungen waren insgesamt so herzlich und ermutigend, dass unser Weg nach Irland bald feststand. Inzwischen leben wir seit einem Jahr in einem kleinen, lebendigen Ort im Nordwesten Irlands und von Monat zu Monat wächst meine Dankbarkeit darüber, dass der Weg uns hierher geführt hat.

Home-based Education als Grundrecht

Die irische Verfassung legt in Artikel 42 fest, dass für die Bildung eines Kindes primär dessen Familie zuständig ist und den Sorgeberechtigten freisteht, diese Bildung zuhause, an einer privaten oder staatlichen Schule zu ermöglichen. Darüberhinaus besagt Absatz 3.1 ausdrücklich, dass Eltern nicht dazu verpflichtet werden dürfen, ihre Kinder an eine Schule zu schicken. Beim Gedanken daran, welch enorme Bedeutung diese wenigen Worte für das alltägliche Leben und Glück so vieler Menschen haben, bekomme ich eine Gänsehaut. Gleichzeitig – und das finde ich persönlich durchaus sinnvoll – besitzt der irische Staat den Auftrag sicherzustellen, dass jeder junge Mensch ein „Mindestmaß an moralischer, intellektueller und sozialer Bildung“ erhält.

Aus diesem Grund müssen ab dem 6. Geburtstag alle, die nicht in eine staatlich anerkannte Schule gehen, in ein gesondertes Register aufgenommen werden. Dafür stellen die Eltern einen Antrag bei der zuständigen Behörde, in dem sie z.B. Angaben über Lernorte, -materialien, ihre grundsätzlichen Beweggründe und Herangehensweisen machen. Sobald der Eingang des Antrags bestätigt wird, darf Home Education begonnen werden. Für die Aufnahme ins Register folgt dann ein persönliches Gespräch (Preliminary Assessment) mit den Eltern. Manche Familien warten momentan allerdings ein bis zwei Jahre darauf – wir selbst haben den Antrag vor 9 Monaten gestellt und bisher keine Terminanfrage bekommen. Auf Grundlage dieses Gesprächs wird dann ein Gutachten mit Empfehlung für oder gegen die Aufnahme des jungen Menschen ins Register erstellt. Dabei wird der Entwurf des Gutachtens zuerst mit den Eltern besprochen, sodass diese die Möglichkeit haben, Anmerkungen zu machen, Missverständnisse zu klären oder Falschinformationen zu berichtigen – es scheint hier wirklich um eine konstruktive Zusammenarbeit zu gehen. Sollten Zweifel daran bestehen, ob die bereitgestellte Bildung die Mindestanforderungen erfüllt, kann die Behörde ein vertiefendes Assessment in der direkten Lernumgebung des Kindes veranlassen und im äußersten Fall die Aufnahme ins Register verweigern – das passiert meines Wissens aber extrem selten. Einige befreundete Familien hatten ihr Preliminary Assessment im letzten Jahr, bekamen sehr wohlwollende Gutachten und berichteten durchweg positiv über den ganzen Prozess. Aus ihren Erfahrungen und den offiziellen Richtlinien ergibt sich für mich folgendes Bild:

Den Eltern steht frei, für das Treffen mit dem oder der Gutachter*in einen Ort zu wählen, an dem sie sich wohl fühlen – das kann das eigene Wohnzimmer, aber auch ein Café sein. Dort sprechen sie über die Art der Bildung (z.B. verwendete Materialien, Tätigkeiten und Lernsituationen), die ihrem Kind zur Verfügung steht. Manche Eltern sind vor diesem Termin verständlicherweise sehr aufgeregt. Im Nachhinein beschreiben viele ihn aber als simple Gelegenheit, in offener und angenehmer Atmosphäre ihre Angaben aus dem Antrag mit Leben zu füllen. Da die geforderte „Mindestbildung“ nirgendwo genau definiert wird, müssen Eltern weder eine formale Qualifikation vorweisen, noch bestimmte Lehrpläne oder Methoden befolgen. Wichtig scheint vor allem, dass sie Interesse und Motivation für die Bildung ihres Kindes mitbringen und ihm ermöglichen, seine Potentiale zu entfalten. Wie das im Einzelnen konkret geschieht, darf jedoch vor dem Hintergrund der individuellen Interessen, Bedürfnisse und Fähigkeiten des jungen Menschen sowie den Möglichkeiten seiner Familie sehr unterschiedlich sein. Wenn Eltern z.B. beschreiben, dass ihr Kind beim Backen und Einkaufen rechnet, Zutatenlisten schreibt, sich intensiv um das Haustier kümmert, mit Freund*innen zum Fußballspielen trifft und andere spezielle Interessen (z.B. ein Musikinstrument oder Kunsthandwerk) verfolgt, gilt all das als Bereitstellen von Bildung. Generell scheinen die meisten Gutachter*innen mit dem Konzept von Unschooling vertraut zu sein und den individuellen Herangehensweisen aller Familien viel Wertschätzung entgegenzubringen. Auch das folgende Zitat aus den Leitlinien zur Durchführung der Assessments1 macht deutlich, dass Home-based Education nicht als Imitation von Schule betrachtet werden sollte:

It is critically important that those involved in the assessment of educational provision at home recognise that the customs, practices and standards that obtain generally in school-based education are not necessarily relevant to education that is provided in places other than recognised schools. (…) Home-based education may vary considerably, depending on the individual circumstances of the family and child (…) Many home-based educators use an informal or semi-informal approach, in which opportunities for learning that arise in everyday experiences are used in a highly flexible, child-centred manner. (…) It should also be noted that parents who start with a formal approach often change to a more informal one over time.“ (p. 21-22)

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die an der Überprüfung des häuslichen Bildungsangebots beteiligten Personen erkennen, dass die Bräuche, Praktiken und Standards, die allgemein in schulischer Bildung vorherrschen, nicht unbedingt für Bildung außerhalb staatlich anerkannter Schulen gelten. (…) Der häusliche Unterricht kann je nach den individuellen Umständen der Familie und des Kindes erheblich variieren. (…) Viele Heimpädagogen verfolgen einen informellen oder semi-informellen Ansatz, bei dem Lernmöglichkeiten, die sich aus alltäglichen Erfahrungen ergeben, sehr flexibel und kindzentriert genutzt werden. (…) Es sollte auch beachtet werden, dass Eltern, die mit einem formellen Ansatz beginnen, im Laufe der Zeit häufig zu einem informelleren Ansatz übergehen.“ (S. 21-22)

Während der Beschäftigung mit den rechtlichen Grundlagen und formalen Abläufen ist mir noch einmal deutlich geworden, wie viel Vertrauen den Familien hier entgegengebracht wird. Nach meinem Empfinden wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass Eltern ihre Kinder sehr gut kennen und ausgezeichnet auf deren Bedürfnisse eingehen können und wollen. Dabei werden individuelle Situationen, Wünsche und Lebenswege bewusst anerkannt und unterstützt: Was für einen Menschen gut passt, muss für den anderen nicht erstrebenswert sein. Im Grunde ist das eine Selbstverständlichkeit, doch in Deutschland erschien uns dieser Zustand unerreichbar. Dort fühlten wir als Eltern, dass uns in erster Linie Misstrauen und (im Bezug auf Unschooling) regelrechte Feindseligkeit entgegengebracht wurden, die uns in permanenten inneren Stress und Rechtfertigungsnot versetzten. Wie tief die inneren Wunden daraus sind, merke ich, wenn ich im Kontakt mit irischen Behörden meterhohe innere Schutzwälle auftürme. Nach einer Weile realisiere ich meist, dass ich keinen davon brauche, weil die Menschen dort wirklich helfen wollen (übrigens oft auf eine bezaubernd herzliche Art). Der Staat ist da, um zu unterstützen, nicht um zu kontrollieren.

Schulfreier Alltag in der irischen Gesellschaft

Trotz der günstigen Gesetzeslage für schulfreie Bildung sind nicht alle Menschen in Irland damit vertraut – schließlich durchläuft auch hier die überwiegende Mehrheit eine klassische Schullaufbahn. Hin und wieder begegnen uns zweifelnde Nachfragen oder die Sorge um spätere Abschlüsse und Berufschancen. Dabei gilt: Wer hier einen Schulabschluss (vergleichbar mit dem deutschen Abitur) machen möchte, kann dies jährlich nach vorheriger Anmeldung an jeder Sekundarschule tun. Darüberhinaus gibt es Möglichkeiten, ohne Schulabschluss (z.B. durch ein persönliches Vorstellungsgespräch) in die Hochschul- oder Berufsausbildung einzutreten. Insgesamt erfahren wir jedoch viel Interesse und Wertschätzung für unseren Weg. Inzwischen kommen befreundete Eltern aktiv auf mich zu, deren Kinder in der Schule unglücklich sind und die Rat und Information zu Alternativen suchen. Daneben gibt es irlandweit eine lebendige Community von Home- und Unschoolern, die sich in regionalen Facebookgruppen austauschen und regelmäßig treffen. Einmal im Jahr organisiert übergeordnet das Home Education Network (https://henireland.org/) ein mehrtägiges Festival mit Workshops und Vorträgen.

Neben den Treffen mit anderen schulfreien Familien genießen wir es, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, ohne unsere Bildungsphilosophie ständig thematisieren zu müssen. Wir wohnen in einer kulturell diversen Gemeinde, denn rund die Hälfte aller Menschen sind zugewandert. Es gibt ein großes Angebot an Sport, Musikgruppen, Sprachkursen, Kunstworkshops, vielen anderen familienfreundlichen Events und eine gut ausgestattete Bibliothek. Vor allem über die Musik und Sprachencafés, aber auch durch Kontakte in der Nachbarschaft haben wir inzwischen ein lebendiges soziales Netz, in dem wir uns verbunden und zuhause fühlen. Die Freundschaften unserer Söhne sind dabei nicht begrenzt auf eine Altersgruppe – sie verbringen mit der 2-jährigen Nachbarin genauso gerne Zeit wie mit den 30- oder 70-jährigen Bandmitgliedern. Regelmäßige herzliche Kontakte zu Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und Interessen sind eine Facette unseres schulfreien Lebens, die ich besonders mag.

Gleichzeitig haben wir jederzeit die Möglichkeit, Familienausflüge in den Wald oder an die wunderschöne Westküste Irlands zu machen. Auch unsere Begeisterung für alte Burgen, historische Museen, Archäologie und Paläontologie findet genug Futter (der Garten beherbergt inzwischen eine riesige Fossiliensammlung). Irlands bewegte Geschichte begegnet uns tagtäglich in Musik, Sprache oder einem der verfallenen Steinhäuser, die wir auf unseren Wanderungen passieren. Es ist jedes Mal schaurig-schön sich vorzustellen, wie vor 200 Jahren Menschen darin lebten. Überhaupt beginnt die Fantasie zwischen den vielen moosbewachsenen Felsen und gurgelnden Bächen schnell zu blühen. Wenn dann noch ein bisschen Nebel dazu kommt, ist das Feenland perfekt.

Nicht nur „sunshine and roses“

Natürlich gibt es in Irland auch Herausforderungen, die uns zumindest zeitweise Sorgenfalten und Bauchgrummeln bescherten:

  1. Wohnungsnot

Wer die dünn besiedelte Landschaft und die vielen leerstehenden Häuser anschaut, könnte meinen, dass es in Irland kein Problem sei, eine Mietunterkunft oder ein günstiges Haus zu finden. Leider sieht die Realität momentan anders aus: Wohnraum ist sogar in ländlichen Gegenden knapp, Mieten sind in den letzten Jahren massiv gestiegen, tausende Familien leben in Notunterkünften und viele junge Menschen wandern aus, weil sie keine Perspektive für ein eigenes Zuhause sehen. Wir leben in einem der günstigsten Orte Irlands, zahlen 1000 Euro Kaltmiete für ein winziges Haus, in dem der Wind durch 500 Ritzen pfeift und die Heizung regelmäßig ausfällt. In unserer Gegend kommt allerdings nur alle paar Monate überhaupt ein Mietobjekt auf den Markt und bei der Besichtigung platzte das Häuschen vor lauter Andrang aus allen Nähten. Deshalb freuen wir uns, dass wir überhaupt einziehen konnten, haben die Ritzen so gut wie möglich gestopft und machen bei Heizungsausfall Kaminfeuer.

Grundsätzlich werden deutlich mehr Immobilien zum Kauf als zur Miete angeboten, allerdings sind auch hier die Preise stark gestiegen. Trotz allem kenne ich einige zugewanderte Familien, die in den letzten Jahren auf ganz unterschiedlichen Wegen ein schönes Zuhause für sich gefunden haben. Viele Mietunterkünfte werden z.B. durch private Kontakte vergeben, bevor sie offiziell inseriert werden. Wer schon ein paar Leute in der Wunschgegend kennt, kann also durchaus bessere Chancen haben. Außerdem gibt es erste hoffnungsvolle Anzeichen, dass sich die Lage auf dem Wohnungsmarkt in den nächsten Jahren entspannt.

  1. Transport

In Deutschland lebten wir viele Jahre problemlos ohne Auto zwischen Hamburg und Bremen, der stündlich fahrende Zug brachte uns täglich bis Mitternacht ins Großstadtleben und wieder zurück. Ohne Auto in einer irischen Landstadt fühlt es sich eher nach „überleben“ an: Während der ersten Monate hier waren wir immer davon abhängig, ob eine gute Seele uns mitnahm oder wir einen der drei täglichen Züge erwischten – ohne auf dem Weg zum Bahnhof von einem plötzlichen Schauer durchnässt zu werden. Da es in Irland kaum begehbare Feldwege gibt, konnten wir nicht einmal wandern gehen, denn auf den engen, kurvigen Landstraßen zu laufen ist weder angenehm noch sicher – und die wunderschönen Wandergebiete waren wiederum ohne Auto für uns nicht erreichbar. Wie eingeschränkt und abgeschnitten wir uns fühlten, wurde mir voll bewusst, als wir endlich ein Auto hatten: Auf einmal konnten wir zum Weihnachtsmarkt in Galway oder Konzerten im Nachbarort fahren. Seitdem bin ich überzeugt: Wer in dieser Gegend frei und glücklich leben will und nicht zufällig einen zahmen Drachen im Garten hat, braucht ein zuverlässiges Fahrzeug. Ach ja, und den Mut, sich auf abenteuerlich schmale, holprige (und trotzdem wahnwitzig schnell befahrene) Straßen zu trauen. Aber dann macht es Spaß.

  1. Gesundheitssystem

Mir ist bewusst, dass einige Menschen der „schulfreien Szene“ das staatlich finanzierte Gesundheitssystem ohnehin kaum bis gar nicht in Anspruch nehmen. Für uns ist das anders und ich sehe einen deutlichen Unterschied der medizinischen Versorgung zwischen Irland und Deutschland. Eine ausreichende Grundversorgung ist definitiv vorhanden und wir bekamen sogar direkt nach unserer Ankunft einen Platz in der hausärztlichen Praxis „um die Ecke“ (was nicht selbstverständlich ist). Für uns kostet dort jeder Besuch aber pauschal 50 Euro, Medikamente müssen selbst bezahlt werden, die Wartelisten für viele Operationen sind lang und Behandlungsfehler keine Seltenheit. Menschen, denen ein qualitativ hochwertiges und kostengünstiges Gesundheitssystem wichtig ist, sollten darauf vorbereitet sein.

Neben diesen Herausforderungen wurden wir in machen Bereichen auch positiv überrascht: Beispielsweise gibt es in Irland viel mehr staatliche Sozialleistungen und finanzielle Unterstützung für alle möglichen Projekte (von der Firmengründung bis zur Hausrenovierung), als wir je erwartet hatten. Auf keinen Fall auslassen möchte ich außerdem das Wetter: Ja, es regnet. Aber oft scheint kurz danach wieder die Sonne. Und selbst, wenn sie das nicht tut – der irische Himmel mit seinen im Wind rasenden Nebelschleiern, rot-golden angestrahlten Wolkenbergen und grandiosen Regenbögen erscheint mir wilder, lebendiger und beflügelnder als die endlosen nass-grau verhangenen Wintermonate in Norddeutschland. Aber wer weiß, vielleicht spiegelt sich hier nur mein allgemeines Lebensgefühl wieder. Damit komme ich zum letzten Abschnitt:

Luft zu atmen und Raum zu wachsen

Zusammenfassend fühlt sich unser Leben in Irland oft an wie ein Geschenk. Egal, ob wir weiterhin ausschließlich schulfrei leben oder unsere Söhne sich irgendwann für einen anderen Bildungsweg entscheiden: Hier sind wir ein willkommener und vollwertiger Teil der Gesellschaft, ohne für unseren selbstbestimmten Alltag kämpfen zu müssen. Wir genießen es, in manchen Lebensbereichen sehr „mainstreamig“ unterwegs zu sein und gleichzeitig spezielle Interessen intensiv verfolgen zu können. Ich habe lange geglaubt, dass meine zwei großen Bedürfnisse nach Sicherheit und Freiheit einander entgegenstehen, denn Sicherheit war in mir unbewusst mit stark begrenzenden Strukturen verknüpft. In Irland erlebe ich vielmehr, dass Sicherheit durch Freiheit entstehen kann: Durch die Gewissheit, ausprobieren, Fehler machen und wachsen zu dürfen – ohne in ständiger Angst vor Bestrafung oder Verurteilung zu leben. Mikromomente des Glücks (wie ein gemeinsam gesungenes Lied oder einen Waldspaziergang) zu genießen – ohne das permanente Unbehagen, irgendetwas noch nicht erreicht oder bewiesen zu haben. Es ist ein Leben abseits von Großstädten, Hektik und aufgedrückten Programmen, umgeben von freundlichen Menschen, Musik und Natur. Auch wenn wir vieles dafür aufgeben mussten und es immer wieder Herausforderungen zu meistern gibt: Hier haben wir Luft zu atmen und Zeit zu heilen, Raum für inneres und äußeres Wachstum. Auf eine fast magische und gleichzeitig leise, unspektakuläre Art gibt Irland mir ein Gefühl von gleichzeitiger tiefer Verbundenheit und Weite, von Ruhe und Kraft. Dem Rest der Familie scheint es ähnlich zu gehen. Und weil ich das noch immer nicht hundertprozentig erklären kann, benutze ich abschließend die Worte meines Mannes: „Irgendwas liegt hier in der Luft, das mich einfach glücklich macht.“

Wenn du mehr über schulfreies Leben in Irland erfahren möchtest, lies gerne auf meinem Blog weiter: www.sajuno.de

Quelle Zitat aus den Leitlinien zur Durchführung der Assessments: Department of Education and Science: Guidelines on the Assessment of Education in Places Other Than Recognised Schools, https://www.tusla.ie/uploads/content/guidelines_assessment_education_outside_schools.pdf (04.02.2024)

Dieser Artikel ist 2024 in Heft 100 – Freilernen weltweit Teil 1 erschienen