Wie können wir Geschichte für Kinder erlebbar machen?
Text: Selene Hillebrand, Ausgabe Nr. 104
Als bei meinen Kindern das Interesse für Geschichte entstand, wurde ich von ihnen nicht gefragt, wann irgendwer geboren oder gestorben ist oder wie lange irgendein Krieg andauerte. Meine Kinder wünschten sich eine Geschichte und ich musste sogleich an meine eigene Kindheit denken.
Ich kann heute nicht mehr aus dem Stegreif heraus besondere Jahreszahlen nennen oder wie viele Pyramiden im alten Ägypten errichtet worden sind. Aber als ehemalige Waldorfschülerin konnte ich mich sehr gut an die Faszination erinnern, in eine andere Welt zu tauchen, sich vorzustellen, wie die Ritter um ihre Burgen kämpften oder die Ägypter riesige Pyramiden bauten.
Und so haben wir nach und nach begonnen, in die Vergangenheit einzutauchen und sie für uns lebendig werden zu lassen. Oft ist bei meinen Kindern der Funke für ein Thema auf Reisen und damit verbundenen Erlebnissen entfacht worden. Die Erkundung einer Ritterburg, die Erforschung einer Tropfsteinhöhle. Hier wollten die Kinder dann mehr erfahren, wer hat in der Höhle gelebt oder wer waren denn eigentlich Ritter, was haben die gemacht, wenn die nicht gekämpft haben? Andersrum kamen oft Fragen auf beim Durchforsten meines Bücherschrankes.
Ein Buch mit Fotografien von ägyptischen Pyramiden lies viele Fragen entstehen. Ich habe in solchen Situationen nicht an Jahreszahlen gedacht, sondern den Kindern etwas über die Menschen und das Land erzählt. Wie sieht das Land Ägypten aus und warum war der Fluss Nil für die Menschen so wichtig. Was haben die Menschen dort essen können, was hatten sie für Handwerkszeug und schließlich was waren die Pyramiden denn eigentlich und wie wurden sie erbaut.
Um solche Fragen zu beantworten, kann ein gemeinsamer Ausflug in die Stadtbibliothek ein schöner Beginn sein, um in ein Thema einzusteigen. Das, was die Kinder gemeinsam erfahren, setzen sie sogleich in das Spiel um. Aus alten Vorhängen wird im Wohnzimmer eine Wüstenlandschaft gebaut, aus Bauklötzen, Turnmatten und Stühlen eine Pyramide errichtet. Im Wald entdecken wir eine kleine Erdhöhle und die Kinder werden zu Höhlenbewohnern, eine alte Ruine wird zur Ritterfestung, die Kinder finden durch ihre Begeisterung in ein Spiel und tauchen ein in eine vergangene Zeit, die sie durch ihre Gefühlswelt wieder lebendig werden lassen.
Auch das künstlerische Arbeiten lässt sich für uns wunderbar mit dem Thema Geschichte vereinbaren.
Zum Thema Steinzeit haben wir selbst Höhlenmalereien auf zuvor gesammelten Steinen gemalt und uns Aufbewahrungsbeutel aus Leder genäht. Mit Ton lässt sich vielerlei gestalten. Wir haben Pyramiden geformt und Ritterburgen gebaut. Die Totenmaske von Tutanchamun wurde gemalt und mit Blattgold verziert. Wir haben uns Ritterschilde selbst gebaut und vieles mehr. Für meine kleineren Kinder ist es immer schön, etwas zum jeweiligen Thema zu malen. Meine älteren Kinder haben oft auch Freude daran, etwas dazu zu schreiben, dies beginnt meistens allmählich. Als sie begonnen haben, die Welt der Schrift zu entdecken, haben sie zunächst ihren Bildern eine Überschrift oder kurze Beschreibung gewidmet, das ist eine Pyramide oder ähnliches. Meine älteren Kinder schreiben dann auch gerne kleine Geschichten oder Erzählungen dazu. An den gemalten Bildern und geschriebenen Texten kann ich dann sehr schön sehen, was die Kinder am meisten bewegt hat. Aber ich denke, auch wenn Kinder nicht gerne schreiben, oder es noch nicht für sich entdeckt haben, Geschichte lässt sich vor allem über das Erzählen, Lesen, Betrachten von Bildern und der künstlerischen Tätigkeit erfassen.
Auch unternehmen wir gerne gemeinsame Ausflüge zu Themen, die die Kinder interessieren
oder was uns auf Reisen begegnet. Besichtigungen von Schlössern, Burgen, Museen, Tropfsteinhöhlen, Orte, an denen etwas entdeckt wurde, besondere Bauwerke, es gibt hier unzählige Möglichkeiten. Für ältere Kinder eignen sich auch Dokumentationen, diese schaue ich mir zuvor selbst einmal an, um sicherzugehen, dass sie sich für die Kinder und unser Thema eignen.
Bei der Behandlung von Geschichte gibt es natürlich immer viele Betrachter und oft unterschiedliche Ansatzpunkte. Es gibt den klassischen Geschichtsunterricht nach Lehrplan, wie ihn die meisten von uns aus der Schule kennen. Es gibt den Geschichtsunterricht aus waldorfpädagogischer Sichtweise, wie einige ihn aus der Waldorfschule kennen, und dann gibt es noch vieles im Internet, was auch manchmal auf keinerlei Grundlage zurückzuführen ist und sich vergleichbar wie ein Herr der Ringe Epos lesen lässt.
Einiges, was wir vielleicht in Kindertagen noch gelernt haben, ist heute wissenschaftlich widerlegt. Wie soll man also hier vorgehen, um den Kindern kein falsches Bild von der Vergangenheit zu vermitteln? Hilfreich für mich ist immer, verwendete Materialien im Vorfeld selbst zu prüfen. Wichtig finde ich auch, den Kindern klar zu vermitteln, dass wir vieles, was in weiter Vergangenheit liegt, nicht sicher wissen, wir können nur ganz nüchtern auf das schauen, was uns noch vorliegt, wie etwa alte Schriften, Bauwerke oder andere Zeugnisse aus der Vergangenheit, daraus entsteht dann das Bild, was wir uns von der Vergangenheit machen können. Dieses Bild kann sich aber jederzeit ändern, wenn beispielsweise etwas Neues entdeckt wird oder die Wissenschaft und Forschung sich weiter entwickelt und somit auch die Möglichkeiten, etwas zu erforschen.
Ich versuche, meinen Kindern zu vermitteln, dass sie die Dinge infrage stellen können und sich selbst ihre Gedanken machen dürfen. Denn so kann dann ein eigenes lebhaftes Bild von Geschichte entstehen. Mein größter Sohn entdeckt die Dinge gerne selbst und sucht nach den passenden Informationen, am liebsten im Internet. Für solch eigene Projekte war es für mich wichtig, im Vorfeld zu sensibilisieren und über die gefundenen Materialien gemeinsam zu sprechen.
Ich habe bei meinen Kindern erlebt, dass Teenager gerne kontroverse Themen zur Geschichte suchen und für sich bearbeiten wollen, und ich denke, dass in einem Lebensabschnitt, in dem man selbst unabhängiger wird und beginnt, sich ein eigenes Weltbild zu schaffen, das unabhängig von dem der Eltern fungiert, die Geschichte kontrovers zu behandeln, wie geschaffen ist, um mit sich selbst und seinem eigenen Blick auf die Welt umgehen zu lernen. Hier dürfen wir auch im Vertrauen bleiben zu unserem Kind und das Gespräch suchen und auf das schauen, was unser Kind hier auch für uns Neues entdeckt.
Denn hier finden wir schlussendlich zum Kern der Geschichte, der Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Was können wir aus der Vergangenheit lernen? Wir können eine neue Perspektive gewinnen, um zukünftigen Problemen vorzubeugen und ein tieferes Verständnis für die Welt zu erlangen. Indem wir vergangene Ereignisse betrachten, können wir wertvolle Lehren daraus ziehen, die uns helfen, dieselben Fehler in Zukunft nicht zu wiederholen. Die vergangene Geschichte zeigt uns die menschliche Natur und das wiederum hilft uns, Empathie und Mitgefühl für diejenigen zu entwickeln, die vor uns kamen. Die Vergangenheit zu begreifen, bedeutet auch, die Zukunft zu verstehen, und diese Kompetenz ist schlussendlich und besonders für unsere jungen Menschen der Schlüssel zu einer gelungenen Gegenwart. Als junges Kind kann ich diese Zusammenhänge zunächst noch nicht erfassen, ich entwickle aber ein Gefühl für die Vergangenheit, das mich später im Jugendalter und als Erwachsener wie bei einer Landkarte auf den richtigen Weg bringen kann.
