Weshalb ein verpflichtender Lehrplan von Bildung abhält


Text: Nando Stöcklin, Ausgabe Nr. 103

Wer mehrere Kinder hat, ist vielfach erstaunt, wie unterschiedlich sie veranlagt sind und in welch unterschiedlichem Tempo sie sich entwickeln. Wann dreht es sich zum ersten Mal um? Wann kann es gehen? Wann entdeckt es den Baum draußen auf der Wiese als Kletterparadies? Und was fasziniert das Kind?

Zwei phänomenale Werkzeuge der Natur

Alle Menschen haben von der Natur zwei Werkzeuge mit auf den Weg erhalten, um ihre ganz individuellen Veranlagungen und Talente zu entwickeln.

Zum einen haben sie einen ganz individuellen Entwicklungsplan, der vorgibt, was die Kinder wann entwickeln können. Gewissermaßen der natürliche Lehrplan.

Doch wie weiß ein Kind, was als nächstes aus ihm entwickelt werden will? Nebst dem Entwicklungsplan erhalten wir Menschen ein weiteres nützliches Werkzeug mit auf den Weg: die Fähigkeit zu spielen. Und das ist entscheidend, denn wer spielt, lebt das, was aktuell aus diesem Menschen gelebt werden will.

Spielen heißt lernen und innerlich wachsen

Spielen bedeutet Herausforderungen aus einem inneren Drang anzupacken, einfach aus Freude an der Herausforderung.

Von außen betrachtet, können Spiele ganz und gar unproduktiv erscheinen. Doch aus Sicht des inneren Entwicklungsplans ergibt das Spiel immer Sinn, weil durch das Spiel das geübt und gelebt wird, was gerade bereit ist, entwickelt zu werden.

Wie funktioniert dieses wunderbare Zusammenspiel von Entwicklungsplan und Spiel? Wer spielt, packt eine Herausforderung aus einem inneren Drang an. Und der innere Drang wird aus dem inneren Entwicklungsplan gespeist.

Spielen ist Lernen und Potenzialentfaltung

Jedes Spiel ist eine Herausforderung. Eine Herausforderung wiederum ist eine Aktivität, die weder unter- noch überfordert, stattdessen exakt dem aktuellen Entwicklungsstand entspricht. Somit ist jedes Spiel etwas, was etwas schwieriger ist als das, was der Mensch routiniert kann. Das Lernpotenzial steckt somit in jedem Spiel.

Beim schulischen Lernen müssen Lehrpersonen versuchen, die Neugierde eines jeden Kindes zu wecken, auf deren Vorwissen abzustützen und den „Lernstoff“ so aufzubereiten, dass Kinder mit allen Emotionen dabei sind. Denn Emotionen sind entscheidend, damit das Gelernte im Gehirn gespeichert und langfristig nutzbar ist.

Bei einer Klasse mit zwanzig bis dreißig Schülerinnen und Schülern ist das ein Ding der Unmöglichkeit, wenn die Lehrperson sich an einen schulischen Lehrplan halten muss. Beim Spielen hingegen geschieht das alles ganz automatisch.

Je größer die Freiheit des Kindes ist, frei zu spielen, desto mehr kann es demnach das in ihm veranlagte Potenzial entwickeln. Wird ein Kind vom Spielen abgehalten, entwickelt es sich unterhalb seiner Möglichkeiten.

Ein Recht auf Bildung bedeutet ein Recht auf freies Spielen

Jedes Kind soll ein Recht auf Bildung haben, sind sich viele einig. Doch was heißt das? Müssen deshalb alle Kinder zur Schule gehen?

Was gut gemeint ist, verursacht oft genau das Gegenteil. In der Schule sind Lehrpersonen an einen schulischen Lehrplan gebunden. Im Gegensatz zum inneren Entwicklungs- oder Lehrplan, harmoniert der von der Schule vorgegebene Lehrplan höchstens zufällig mit der Einzigartigkeit der Kinder. In vielen Fällen kommt er mit dem inneren Lehrplan in Konflikt. Indem Kinder vom freien Spielen abgehalten werden, werden sie davon abgehalten, ihre Veranlagungen zu entwickeln – resp. sich im humboldtschen Sinne zu bilden.

Blicken wir also genau hin, wird das Recht auf Bildung, das mit der Schulpflicht umgesetzt werden soll, zu einer Lotterie, wie stark der äußere, schulische Lehrplan im Einklang steht mit dem inneren.

Nehmen wir das Recht auf Bildung ernst, müsste der verpflichtende Lehrplan durch ein Recht auf Spielen ersetzt werden. Letzteres gibt es zwar im Rahmen der UN-Kinderrechtskonvention, wird aber aus obiger Perspektive – genau wie das Recht auf Bildung – nicht umgesetzt.

Dr. Nando Stöcklin, Ethnologe und Pädagoge, erforschte an einer Pädagogischen Hochschule intensiv die gesellschaftlichen Auswirkungen der digitalen Transformation und das Potenzial spielerischen Lernens. Aus dieser Arbeit heraus widmete er sich vollständig dem Ansatz des spielerischen Lernens und Arbeitens. Mit der Gründung von *Spiel dein Leben* möchte er Menschen darin unterstützen, den Weg zurück zu ihrem natürlichen Lebensspiel zu finden. Sein Ziel ist es, ihnen den Weg zu Leichtigkeit, Sinn und Berufung aufzuzeigen – in Harmonie mit den Herausforderungen und Möglichkeiten unserer sich wandelnden Welt.

Dieser Artikel ist 2025 erschienen in Heft 103 – Recht auf Bildung