Freiwillig lernen zu dürfen war mein Schülerinnentraum


Text: Anke Caspar-Jürgens, Ausgabe Nr. 103

Freiwillig lernen zu dürfen war das, wohin es mich zog, mein unerfüllter Schülerinnentraum. Dennoch wurde ich dreizehn Jahre lang eine engagierte Lehrerin im Schulsystem und zudem Gründerin einer „Freien“ Schule.

Warum dann den Schuldienst kündigen, werden sich einige von euch fragen? Es war die schmerzliche Erkenntnis, dass ich mit meinem Einsatz die grundsätzlichen Fehler im hierarchischen Schulsystem, verbunden mit Schulanwesenheitszwang, nicht würde reparieren können.

Diese Einsicht führte mich schließlich zu etwas, das es nach dem Willen der Behörden nicht geben darf: einem völlig freien und selbstbestimmten Lernen, mit den betroffenen Familien, mit selbstgewählten LernbegleiterInnen und verankert im gemeinschaftlichen Umfeld. Als »Temenos-Lerngruppe« existierten wir, weil wir es so wollten. Wir nahmen uns die Freiheit, einen rechtsfreien Raum zu schaffen, in dem neue Erfahrungen im Miteinander von Leben und Lernen aufblühen könnten.

Wie fühlt es sich an, wenn eine gestandene Lehrerin sich ihrer antrainierten Rolle zu entledigen versucht, um eine Begleiterin des Lernens von Kindern und deren Eltern zu werden? Meine tiefgründigen Erfahrungen mit dem lebendigen, kreativen freien Lernen von Kindern in der Verbundenheit mit ihrem größeren sozialen Umfeld habe ich in dem Buch „Lernen ist Leben. Die Familienschule. Wie Schule sein könnte, wenn das Lernen frei wäre.“1 dokumentiert.

Tilmann, einer der Ersten in der Temenos-Lerngruppe, war sehr verstört, als er in unsere Gruppe kam. Zum Schulbesuch war er nicht mehr zu bewegen gewesen.
Sein Rechtsstreit, mit Johannes Heimrath als Rechtsbeistand, gegen das bayerische Kultusministerium wurde nach zwei Jahren gewonnen. Diesen Prozess (den einmalig für Deutschland seine Eltern gewannen) und seinen Ausgang beschreibt Johannes Heimrath spannend in der Dokumentation: „Tilmann geht nicht zur Schule. Eine erfolgreiche Schulverweigerung.“2. Als Anlage findet ihr in dem Buch ein Video, das den Lernprozess aller Beteiligten und die Praxis von Tilmann in der Lerngruppe eindrucksvoll schildert.

In dieser Zeit des Aufbruchs der „Freien“ Schule-Bewegung und der wieder aufflammenden Auseinandersetzungen zum Recht auf Bildung entstand 1991 bei uns die „Petition für Freiheit im Bildungswesen“3. Obgleich an alle Länder und den Deutschen Bundestag versendet, gab es kaum Reaktionen. Bis heute ist diese Petition erschreckend aktuell. Mit ihren fünf Forderungen zur Bildungsfreiheit bildet sie eine realistische Basis für die noch immer überfällige Neukonzeption eines wirklich demokratischen Bildungs- und Schulsystems.

Rund zehn Jahre später, als „Neusiedler“ in einem zerfallenden kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern angekommen, standen wir vor der Bewährung unserer seinerzeitigen Erfahrungen in Bayern mit kreativ gemeinschaftlichem Leben, ungeachtet unserer noch immer tief sitzenden Prägungen zum Gegen- statt einem Miteinander.
Als ich unseren neuen NachbarInnen von unseren Lernerfahrungen auf der Basis einer größeren Gemeinschaft berichtete, war bald entschieden: „Das kriegen wir hier auch hin, muss aber wohl doch genehmigt werden.“ Nach zwei Versuchen mit dem Kopf durch die Wand der Behördenseite musste ich mir eingestehen, dass an eine Wiederholung meiner traumhaft lebendigen Lerngruppenzeit jenseits der Legalität nicht zu denken war.

Um hier einen Zugang zu gewinnen, brauchte es eine andere Energie. Die lebte Christine Simon, sie ist mit Sanftmut gesegnet, gepaart mit beinharter Entschiedenheit, und mehr auf Kompromisse ausgerichtet als auf revolutionären Mut. So gelang es ihr und uns immerhin, eine kleine demokratische Dorfschule genehmigt zu bekommen – eine der ersten (!) in Mecklenburg-Vorpommern. Ein Fuß in der Tür der hiesigen Schulbürokratie?

Mittlerweile erlebe ich, wie sich der zu Beginn eher isolierende „demokratische“ Schulorganismus im Laufe seines Bestehens mit den Bedürfnissen unseres dörflichen Umfeldes verbindet. Und wie sich nicht nur gegenseitig wachsendes Vertrauen entfaltet, sondern die „Schule“ zunehmend zum Teil des Dorfes wird. So klinken sich, nach Absprachen, die jungen Menschen in die Betreuung unserer Kleintiere ein und lehren sich gegenseitig in unserer Gemeinschaftsküche das Kochen und Backen. Zusätzliche LernbegleiterInnen finden sich aus unserer Gemeinschaftsrunde wie auch aus dem Kreis der jungen Erwachsenen aus dem Projekt „Lernzeit“, die auf unserer Campwiese miteinander für ein halbes Jahr gemeinschaftliches Leben und Lernen erfahren. Ein reger Austausch über unser Internet-Netzwerk ermöglicht Eltern und anderen Bürgern aus unserem und den umliegenden Dörfern, sich durch gegenseitige Beratung und Hilfe zu unterstützen.

Derweil ist unsere Gemeinschaft auf Verjüngung aus. Wir GründerInnen sind in die Jahre gekommen und haben etliche junge Menschen, als Familien oder Singles, zum Anlanden zu uns eingeladen. Ihr Ankommen wird sie fordern, wie es uns allen ergangen ist. Wo und wie werden sie wohnen? Können sie sich erstmal provisorisch einrichten und dann in Absprache die notwendigen Behausungen erstellen? Wie sich finanzieren und in welche Tätigkeiten sich einbringen?

Da fragt es sich, warum sie bei soviel Unsicherheiten dabei sein wollen. Was lohnt das Risiko? Ist es der konstruktive liebevolle Geist des Sich-aufeinander-einlassen-wollens? Der hatte seinerzeit mich und danach auch die später Dazugekommenen veranlasst, den sicheren Job, die ungeliebte Tätigkeit, die Verlorenheit inmitten von Menschengewühl hinter sich zu lassen. Zugunsten einer Atmosphäre, in der ein jeder, eine jede sich in der    jeweils spezifischen Andersartigkeit akzeptiert und geborgen fühlt und in der sich das eigene Engagement in einem sinnvollen Rahmen zum gemeinsamen Wohl entwickeln kann. Auf diese Weise werden auf unserem Dorfgelände und in der Gemeinde perspektivisch wohl weitere gemeinschaftliche „Feuer“ entstehen.

Wozu dann noch „mein“ Buch, die Petition, die Dokumentation zum Prozess und der Film? Wir verlassen die satten Zeiten. Bei Herausforderungen, wie beispielsweise maroden und nicht mehr zu finanzierenden Schulen, fehlenden LehrerInnen oder zunehmend widerständigen SchülerInnen und Eltern, könnten diese Texte eure Visionen und konkretes Handeln bestärken.

1 https://drachenverlag.de/buch/lernen-ist-leben.html, auch als kostenfreier Download verfügbar unter: https://drachenverlag.de/media/press/130/attachment.pdf

2https://www.drachenverlag.de/buch/Tilmann_geht_nicht_zur_Schule.html

3 https://www.yumpu.com/de/document/read/38024419/download-petition-freiheit-der-bildung-neue-schule-braucht-das-

Dieser Artikel ist 2025 erschienen in Heft 103 – Recht auf Bildung