Gibt es den perfekten Lernort?

Vor kurzem habe ich eine deutsche Reisende kennengelernt, mit der sich ein sehr angeregtes Gespräch über das natürliche und selbstbestimmte Lernen ergeben hat. Sie arbeitet momentan als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache in einer Willkommens-Klasse an einer Schule in Deutschland; sie kennt die negativen Seiten des Systems und ist individuellem Lernen gegenüber sehr aufgeschlossen. In diesem Gespräch sagte sie etwas, das mich nachdenklich machte – sie sagte: »Ich glaube hier, so mitten in der Natur, gibt es die besten Voraussetzungen für das Freilernen, in der grauen Stadt gibt es viel weniger zu entdecken und zu lernen im Alltagsleben.«

Mich erstaunte diese Aussage ziemlich, vor allem, weil es mitten in einer Phase war, in der mir unsere Umgebung extrem eintönig und langweilig vorkam und ich mir sehnlichst mehr Möglichkeiten für unsere Kinder wünschte.

An dieser Stelle sollte ich wahrscheinlich erst einmal beschreiben wo wir wohnen: Wir leben seit ca. 3 Jahren auf der Insel Bastimentos im Archipelago Bocas del Toro, vor der westlichen Karibikküste Panamas gelegen. Hier ist die Heimat meines Mannes und nach einigen gemeinsamen Jahren in Deutschland haben wir uns entschlossen hierher (zurück) zu ziehen. Die Insel ist zum allergrößten Teil tropisch dicht bewachsen und es gibt nur ein Dorf, ein paar weitere kleine Häuseransammlungen und keine Autos. Die Hauptinsel ist ca. 10 Minuten mit dem Boot entfernt, dort ist die Infrastruktur von Tourismus geprägt und es gibt hauptsächlich Gästehäuser, Hotels und Restaurants sowie Supermärkte und ein paar wenige Warengeschäfte. In dem Dorf, in dem wir leben, gibt es neben den hölzernen Wohnhäusern noch ein paar Gästehäuser, einfache Restaurants und drei kleine Lebensmittelläden. Wir als Familie betreiben eine kleine Saftbar und Surfbrettverleih und vermieten ein Privatzimmer in unserem Haus sowie ein Ferienhaus. Der Rest der Umgebung ist pure Natur: es gibt wunderschöne Strände, türkisblaues Meer, Dschungel und spannende Tiere. Manchmal gibt es auch tagelang Regen, matschige Trampelpfade, heftige Gewitterstürme, viele Mücken und andere Stech- und Krabbeltierchen – Natur in all ihren Facetten :-).

Diejenigen von Euch, die in einer Stadt leben und deren Kinder viele Stunden täglich drinnen verbringen, denken sich vielleicht gerade: »Wow, was für ein toller Ort, dort gibt es bestimmt an jeder Ecke etwas Spannendes zu entdecken! « Gleichzeitig habe ich mir schon oft gewünscht, es gäbe hier Museen, die näher als eine ganze Tagesreise entfernt sind, eine gut ausgestattete Musikschule, eine schnelle Internetverbindung mit unbegrenzter Datenmenge und ein günstiges funktionierendes Postsystem, um auch mal etwas bestellen zu können, das es hier auf den Inseln nicht oder nur sehr teuer gibt.

Das soll nicht heißen, dass ich das, was wir hier haben, nicht schätze oder dass ich hier keine Lernmöglichkeiten für unsere Kinder sehe. Aber es gibt durchaus Beschränkungen und mit der Zeit, und je nach touristischer Saison, zeigt sich eine gewisse Eintönigkeit und Mangel an neuem Input.

Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr wurde mir bewusst, dass dies wahrscheinlich auf so ziemlich jeden Platz der Erde zutrifft. Für unsere Familie hört sich U-Bahn und Straßenbahn-Fahren wie ein kleines Abenteuer an. Für Stadtbewohner dagegen wohl eher wie eine Alltagsbegebenheit oder vielleicht sogar eine Belastung. Diese finden dagegen vielleicht Kühe aus der Nähe zu sehen aufregend, was für diejenigen, die in einer ländlichen Gegend wohnen, wiederum wohl nichts Besonderes ist. Wer in den Bergen lebt, der nimmt die Möglichkeit zum Wandern und das Schlittenfahren im Winter wohl eher als Alltäglichkeit wahr und wer in einem multikulturellen Stadtviertel wohnt, hat sich wahrscheinlich bereits an die bunte Vielfalt von Sprache, Musik, Kleidung und Essen gewöhnt.

Was hat das alles nun mit dem freien Lernen zu tun? Vielleicht haben sich auch manche von Euch schon einmal die Frage gestellt: »Gibt es den perfekten Ort zum Freilernen?« »Ist es besser auf dem Land oder in der Stadt zu leben?« »Ist die Nähe zur Natur oder die Verfügbarkeit von kultureller Vielfalt und Angeboten wichtiger?« 1

Im Grunde muss jede/r diese Frage für sich selbst beantworten. Ich persönlich bin nach langem Überlegen und Abwägen zu dem Ergebnis gekommen, dass jeder Ort der perfekte Lernort sein kann. Und ebenso kann auch jeder Ort ein schlechter Platz zum Lernen sein. Ich denke, es geht weniger um die Beschaffenheit des Ortes an sich, sondern viel mehr um die eigene innere Einstellung gegenüber dem Lernen. Es geht darum, alles was einen umgibt als Lernchance zu begreifen – mit dieser Art der Wahrnehmung stecken in jeder Umgebung 1000 Rätsel und Geheimnisse, die entdeckt und erforscht werden können.

Wenn man an einem Ort lebt, an dem es regelmäßig neuen Input gibt, dann ist das großartig und kann sehr wertvoll sein. Doch ich denke, man kann auch in der Langeweile und Eintönigkeit neues Wissen und neue Fähigkeiten entdecken. Manches tritt sogar erst in der Ruhe wirklich ins Bewusstsein. Anderes dagegen präsentiert sich als buntes und aufregendes Feuerwerk. Wie bei so vielem im Leben kommt es, finde ich, auf die Balance an; und die entwickelt sich aus dem Inneren heraus, wenn man es denn zulässt.

Dann kann man auch im Reihenhaus in der Kleinstadt- Siedlung jeden Tag Abenteuer erleben, auch mitten in der Großstadt Wildkräuter sammeln und Insekten beobachten, auch auf Reisen seine Heimat kennenlernen und im Holzhaus auf der Dschungelinsel zufrieden in der Hängematte liegen und verträumt einem Schmetterling zuschauen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, weil man gerade weder in einem interaktiven Technikmuseum noch bei einem spannenden Workshop über das alte Ägypten ist. Lernen kann immer und überall geschehen – wir müssen ihm nur die (geistige) Türe öffnen!

Nina Downer

Der Artikel ist 2016 in Heft 72 – Stadt-Land-Fluß – Lebensorte erschienen.
  1. Es soll hier wohlgemerkt nicht um die rechtliche Frage des Freilernens in Deutschland gehen (in diesem Zusammenhang hat die Ortswahl womöglich eine ganz andere Bedeutung), sondern um die Frage, ob es einen perfekten Lernort gibt.