Freilernen auf der Schwäbischen Alb

Text: Christiane Ludwig-Wolf

Streit zwischen Brüdern, Uneinigkeit mit mir als Mutter, ob und wie lange am Computer Spiele gespielt und Videos angeschaut werden dürfen und Unwilligkeit, übernommene Arbeiten im Haushalt zu erledigen, Sachen die nicht aufgeräumt werden. Ich denke, viele unserer Herausforderungen sind die gleichen, wie sie auch andere Familien haben, in denen die Kinder zur Schule gehen. Und auch meine Herausforderungen mit mir, meine Ungeduld, mein Ärger, meine Konfrontation mit meinen eigenen Grenzen, haben nichts mit Schule oder nicht Schule zu tun.

Vielleicht ist es manchmal bequemer, wenn die Kinder regelmäßig vormittags weg sind, klar ist, was wann dran ist und vorgegeben, was zu tun ist. Tauschen möchte ich nicht damit, weder mit dem regelmäßigen Programm, das Schule bietet, noch mit dem Angebundensein an bestimmte Zeiten, erst recht nicht dem Leistungsdruck und sozialen Druck, dem Schulkinder ausgesetzt sind.

Wir genießen es, unsere Tage selber einteilen zu können, dann weg zu fahren, wann wir es für sinnvoll halten und auch vormittags Dinge tun zu können, die andere erst am Nachmittag machen.

Wir leisten uns den arbeitsintensiven Luxus des einfachen Lebens: Holzheizung, Kräuter sammeln, keine Spülmaschine, regelmäßig kochen, etwas Gemüse aus dem Garten, Kastanien zum Wäsche waschen sammeln, reiben und trocknen, Kompostklo und manches mehr. Daneben will ich gut für die Kinder da sein, fahre sie zu Kursen, nehme an Freilerner-Treffen teil, mache manches mit ihnen zusammen und versuche Impulse aufzugreifen, die manchmal durchaus langfristig Arbeit bedeuten, wie Jaromirs Bienen. Und dann wollen wir auch einfach so Zeit zusammen verbringen, was vorlesen, mal ein Spiel spielen. Selber filze ich gerne und der Erlös ist zumindest ein Teil unseres Einkommens. Die verschiedenen Sachen sind zeitlich manchmal sehr viel und es ist für mich eine Herausforderung, das gelassen anzugehen und nicht zu viel gleichzeitig zu wollen. Gut ist, dass ich das Filzen zu Hause machen kann und die Kinder auf Märkte mitkommen. Gebe ich Filzkurse ist die Zeit meiner Abwesenheit überschaubar und manchmal kommen sie auch mit und helfen.

Meine beiden jüngeren Söhne hatten den Vorteil, dass sie ältere Brüder haben, die bereits etliche Jahre nicht zur Schule gingen. Das bedeutete, dass ich schon viel Erfahrung sammeln konnte und unsere Umgebung Zeit hatte, sich daran zu gewöhnen. Es war also für Jaromir und Kolja selbstverständlich, dass es eine Möglichkeit ist, nicht zur Schule zu gehen: Es gibt Kinder, die gehen in die staatliche Schule, in eine freie Schule, an eine Waldorfschule und manche sind eben Freilerner. Als ich sie fragte, was sie als Herausforderungen des freien Lernens ansehen, meinte Jaromir, dass es ihn manchmal nervt, wenn er erklären muß, dass er nicht zu Schule geht und ob das überhaupt gehe. Die Fragen kämen aber kaum von Kindern, sondern in der Regel nur von Erwachsenen. In Gruppen, in denen sie sind oder wenn sie sonst andere Kinder treffen, spiele das Thema eigentlich überhaupt keine Rolle.

Die beiden haben auch Freunde vor Ort, es sind jedoch auch manche, die weiter weg wohnen, die sie vielleicht nur bei Freilerner-Treffen sehen oder eben mit dem Zug hinfahren müssen, um sich zu treffen. Zum Glück sind sie damit schon lange Zeit sehr selbständig. Sicher wäre es schön, mehr Menschen um sich zu haben – nicht nur für die Kinder – um sich austauschen zu können, Sachen gemeinsam zu machen und wir haben auch manches hier, das eigentlich von mehr Menschen genutzt werden könnte. Oft beflügeln ja auch die Ideen und Tätigkeiten der anderen und regen zu eigenen Aktivitäten an.

Als wir unserem ältesten Sohn, nachdem er in der zweiten Klasse massiv die Schule verweigerte und absolut nicht mehr hin wollte, dann erlaubten, daheim zu bleiben, ging es ihm erst mal viel besser und er war sehr erleichtert. Dann kam aber eine Zeit, da schien sich all der angestaute Druck Luft zu machen und er war sehr aggressiv zu seinen Brüdern. Ich fand es anstrengend und schwierig, das zu begleiten. Zum Glück wußte ich von Rebeca und Mauricio Wild aus Ecuador, die ja für ihren zweiten Sohn das Pesta gründeten, deren älterer Sohn aber eine normale Schule besuchte, dass auch sie diesen »Entschulungsprozess« bei ihrem Sohn erlebten, als sie ihm nach Jahren ermöglichten, nicht mehr zur Schule zu gehen. Bei Wilds dauerte der Prozess wohl über ein Jahr, bei uns wurde es nach einem dreiviertel Jahr, fast von einem Tag auf den anderen, wesentlich entspannter. Ohne das Wissen, dass so eine Phase nach der Schule möglich ist, wäre ich wahrscheinlich sehr verzweifelt gewesen und hätte auch an unserer Entscheidung, ohne Schule zu leben, gezweifelt. Viel später hatte ich telefonischen Kontakt zu einem jungen Mann, der, nachdem er die Schule verließ, so in ein Loch fiel, dass er daran verzweifelte und sich das Leben nahm. Ich denke, es ist wichtig zu wissen, dass diese Krise auftauchen kann, für die Eltern und die Betroffenen selbst, um damit umgehen zu können und vor allem auch zu wissen, dass es wieder vorbeigeht.

Damals, als die drei »Großen« noch klein waren, war ich viel mit den Kindern alleine und sie den ganzen Tag zu begleiten fand ich durchaus eine Herausforderung. Als große Unterstützung empfand ich die Kurse bei Katharina Martin zur essenziellen Gestaltarbeit für Pädagogen und Eltern, die vom Verein »Mit Kindern wachsen« angeboten werden und die ich jahrelang regelmäßig besuchte. Sie halfen mir, mit mir selber und in Beziehung zu meinen Kindern. Gerade die Herausforderungen, bei denen ich an meine eigenen Grenzen stoße, sind ja die Punkte, die mir ermöglichen, vieles zu erkennen und daran zu wachsen. Sich auf Kinder einzulassen bedeutet eine große Chance, sich selber kennen zu lernen und daran zu lernen.

Bei meinen älteren Söhnen fand ich auch schwierig, dass, wenn sie gefragt wurden, was sie tun, sie sehr oft antworteten »nichts«. Und das, obwohl sie vielleicht den ganzen Tag eine ganze Menge taten. Es war eine große Unsicherheit da, ob das, was sie tun, richtig zählt und natürlich das Wissen, dass eigentlich eine Antwort wie »Ich gehe in diese Schule in die xte Klasse.« erwartet wurde. Bei den »Kleinen« war es mir sehr wichtig, dass ich ihnen für diese Situationen Standardantworten an die Hand gab: »Ich bin Schüler der Clonlara Schule – eine internationale Fernschule«, später dann einfach nur noch »Ich bin Freilerner«. Und »Es gibt viele, die das machen – wir treffen uns auch regelmäßig.« Meine Erfahrung ist, dass es für die Kinder hilfreich ist, Unterstützung zu bekommen, um selbstbewusst hin zu stehen und das Eigene zu vertreten zu können. Bei den beiden Jüngeren war das dann auch immer unkompliziert und entspannt geblieben, wenn solche Fragen kamen.

Und wichtig für dieses Selbstverständliche finde ich auch, andere Freilerner zu kennen und zu wissen, dass sie nicht die einzigen sind, die nicht zur Schule gehen.

Der Artikel ist 2017 in Heft 74 – Herausforderungen beim Freilernen erschienen.

Obwohl wir ganz offiziell hier angemeldet leben und alle wissen, dass die Kinder nicht zur Schule gehen, haben wir seit etlichen Jahren keinen Ärger mehr mit Behörden oder Gerichten. Es gab auch Zeiten, da war das anders und natürlich war auch das eine Belastung. Zum einen, nicht zu wissen, was noch kommt, die Anspannung, die mit diesen im Raum stehenden Drohungen verbunden ist, zum anderen natürlich auch einiges an Zeit, die dafür aufgebracht werden muß. Am schlimmsten und unbefriedigendsten fand ich allerdings die kurze Zeit, in der wir mit Halbwahrheiten unterwegs waren. Meinen Ältesten meldeten wir in Österreich in einer Schule an und behaupteten, dass er dort Blockunterricht hat. Tatsächlich hatten wir die Idee, dass er dort ab und zu sein könnte. Aus verschiedenen Gründen funktionierte das nicht, wir versuchten jedoch gegenüber der Nachbarschaft trotzdem diese Geschichte aufrecht zu erhalten. Die Angst vor Fragen war groß und die Angst, dass es auffliegen könnte auch. Vielleicht hatte es trotzdem den Vorteil, dass wir nicht sofort nach der Entschulung mit den rechtlichen Folgen konfrontiert waren.


Kontakt zur Freilernergruppe Baden-Württemberg bekommt ihr hier:
eu-le.eu/gruppe/Freilernergruppe-Baden-Wuerttemberg


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