Freilernen als eigene Bildungsform

Der Begriff »Freilerner« wurde sowohl von Lothar Kittstein als auch Bertrand Stern in der Freilerner- Zeitschrift kritisiert. Ich halte ihn trotz der Bedenken für hilfreich und glaube, dass er mit dazu beigetragen hat, dass wir und unser Anliegen in der Gesellschaft sichtbarer geworden sind.

Text: Immanuel Zirkler

Für die Medien braucht es einfache Schlagworte, die sie schon in der Überschrift mit verwenden können. Mit dem Begriff »Freilerner« haben wir eine eigene »Schublade« bekommen und konnten uns so vom religiös motivierten »Homeschooling« abgrenzen.

Außerdem hat der Begriff dazu beigetragen, dass wir uns als Szene verstehen und entsprechend auch als Szene wahrgenommen werden. Auch wenn das damit gebildete »wir« problematische Seiten hat, halte ich die dadurch gewonnene Vernetzung und gegenseitige Bestärkung für wichtig.

Des Weiteren halte ich die durch den Begriff vermittelte Vorstellung vom »Freilernen« als eigener Bildungsform, die auf informelles Lernen und die intrinsische Motivation setzt, für wirkmächtig für das gesamte Bildungssystem.

Solange Menschen davon ausgehen, dass ein regelmäßiger Schulbesuch notwendig ist, werden sie subtile Gewalt zur Durchsetzung der Schulpflicht für gerechtfertigt halten oder eben nicht anerkennen wollen, das sie Gewalt ausüben. Beispiele von Freilerner*innen in ihrem Umfeld oder in den Medien, mit denen sie konfrontiert werden, können weit verbreitete scheinbare Selbstverständlichkeiten in Frage stellen.

Um das Freilernen zu legalisieren, bräuchte es aus meiner Sicht bei den Behörden eigentlich nur eine etwas großzügigere Handhabung bei den Ausnahmeregelungen in den Schulpflichtgesetzen. Die Familien und Behördenvertreter*innen könnten im gemeinsamen Gespräch schauen, wie das Freilernen individuell bei einer Familie aussehen und funktionieren kann. Gleichzeitig können gemeinsame Vereinbarungen getroffen werden, damit für die Behörden sicher gestellt ist, dass es den Kindern gut geht.

Spannend finde ich dazu eine Passage aus einem Artikel des Correctivs, in dem der Schulrechtler Johannes Rux zitiert wird: »Trotzdem ist Rux der Meinung, dass Ausnahmen von der Schulpflicht erlaubt sein sollten – sofern diese nicht von den Eltern, sondern vom Kind selbst initiiert werden. ›Wenn ein Kind gegenüber dem Schulleiter begründen kann, wieso es daheim besser lernen kann und wie es sich in die Gesellschaft eingliedern möchte, dann ist es an der Zeit, nachzudenken‹, sagt der Rechtswissenschaftler. Bei vielen Freilerner-Kindern, die freiwillig zuhause bleiben, sei er daher unbesorgt. ›Wenn Kinder der Ausgangspunkt für diese Entscheidung sind, kann man sicher sein, dass es selbständige Menschen sind, die nicht indoktriniert und abgeschottet werden.‹« 

Ausgehend vom Freilernen als eigener Bildungsform ergeben sich viele Ansätze, um den Blick auf junge Menschen zu verändern und das Bildungssystem und den Bildungsbegriff weiter zu entwickeln und offener zu definieren. Bei verschiedenen bildungspolitischen Themen können wir als Freilerner- Szene treibende Kraft sein.

Für ganz zentral halte ich es, auf die Repressionen aufmerksam zu machen, denen junge Menschen ausgesetzt sind, die nicht zur Schule gehen wollen und dabei kein unterstützendes Umfeld haben. So ist etwa der Umstand hervorzuheben, dass ein großer Anteil der Jugendlichen in »Jugendarrestanstalten« dort ist, weil sie die Schule geschwänzt haben und die Bußgelder nicht zahlen konnten.

Bei den zahlreichen Projekten für sogenannte »Schulverweigerer« wäre es aus meiner Sicht deutlich konstruktiver, wenn diese nicht mehr darauf ausgerichtet wären, die Jugendlichen möglichst schnell wieder dazu zu bringen, in der Schule zu funktionieren. Stattdessen sollten sie in ihren Themen und Problemen unterstützt werden. Denn oft sind es massive Probleme, die die Jugendlichen beschäftigen und dazu führen, dass sie nicht mehr zur Schule wollen. Eine Anlaufstelle, bei der die Jugendlichen für sich und ihre Projekte Unterstützung bekommen, wäre hier hilfreich. Gleichzeitig könnten sie dort auch gezeigt bekommen, welche

Der Artikel ist 2017 in Heft 76 – Postfaktisch – Was schafft Realität? erschienen.

Möglichkeiten sie später noch haben, um Abschlüsse zu bekommen. (z. B. über eine Lehre oder externe Abschlüsse). Auch sollten diese Projekte nicht erst für Jugendliche ermöglicht werden, die in der Schule »gescheitert« sind, sondern als Freiraum allen offen stehen. So kann Stigmatisierung und Druck entgegengewirkt werden.

Hier halte ich es für weiterführend, auch das sogenannte »Flexischooling« bekannter zu machen. Dieses Konzept sieht vor, dass junge Menschen zu bestimmten Fächern in die Schule gehen und zu anderen nicht. Dies ermöglicht ihnen, eigene Lernschwerpunkte zu setzen, eigene Interessen zu verfolgen und andere Fächer wegzulassen bzw. selbstständig zu behandeln. Weiter gedacht wäre hier auch möglich, dass Menschen dann in unterschiedlichen Klassen an Fächern teilnehmen und somit flexibler lernen. Dieser offenere Zugang zur Schule würde auch dem Gedanken der »Inklusion« entgegen kommen.

Generell sollte aus meiner Sicht informelles Lernen bekannter gemacht und dafür geworben werden, dass hier weiter geforscht wird. Auch in der Politik und Gesellschaft sollte dies, ebenso wie der Gedanke des lebenslangen Lernens, mehr Beachtung finden. An vielen Volkshochschulen ist das Bildungsangebot noch sehr dürftig. Diese Institutionen gilt es zu stärken und zu subventionieren, um wirklich »Bildung für Alle« zu ermöglichen und ein kostenfreies ansprechendes Programm anzubieten, an dem möglichst weite Teile der Gesellschaft teilhaben können.

Zu den genannten Aspekten lohnt es sich, Verbündete zu suchen, die gemeinsam an einer Umsetzung mitarbeiten. So gelingt es einerseits, den Bildungsbegriff weiter zu fassen und weniger auf eine bestimmte Altersgruppe festzuschreiben. Andererseits hilft es dabei, den oft sehr übergriffigen Umgang mit jungen Menschen zu hinterfragen und weiter dafür zu sensibilisieren, wann bereits physische oder psychische Gewalt stattfindet.


Weitere Beiträge zur Diskussion:

  1. Lothar Kittstein: Widersprüchliche Freiheit – Überlegungen zur politische Dynamik der Freilernerszene
  2. Bertrand Stern: Den Menschen als Subjekt in den Mittelpunkt aller Betrachtung stellen
  3. Lothar Kittstein: Zur Kritik der Bildungsfreiheit
  4. Bertrand Stern: Frei oder Nicht-Frei – das ist hier die Frage!

*Das Artikelbild stammt vom Schulfrei-Festival 2018. 
Auch 2018 wird es ein Schulfrei-Festival geben. Genau so bunt und belebt wie in den letzten fünf Jahren. Diesmal mitten im Grünen an einem neuen Ort 10 km von unserem letzten Veranstaltungsort Klein Leppin entfernt. Gefeiert wird vom 06. bis 09. September 2018 in 16845 Damelack. Alle sind willkommen, mit uns für die Bildungsfreiheit in Deutschland zu feiern! Ob Schüler*innen, Lehrer*innen, Freilerner*innen, Eltern oder Kinder… Hauptsache ihr habt Spaß an einem bunten Festival! Mehr Informationen gibt es unter www.schulfrei-festival.de und auf der Facebookseite www.facebook.com/SchulfreiFestival/