Frei oder Nicht-Frei – das ist hier die Frage!

Lieber Lothar Kittstein,
das Lesen Ihres letzten Beitrags »Zur Kritik der Bildungsfreiheit« in »die freilerner« #73 (2017/1) hat in mir zwei gegensätzliche Gefühle geweckt: zum einen Zustimmung, konnte ich doch vor meinem inneren Auge jene sehen, die Sie beschreiben und mit denen ich zeitweise auch meine Not habe; zum anderen Ärger oder zumindest ein Unbehagen ob der Frage, ob Sie wirklich die Fragestellung so angehen möchten, wie Sie es – meisterhaft – in Ihrem Beitrag taten, dies aus meiner Sicht jedoch nicht ganz offen…

Text: Bertrand Stern

Vorab: Ihren Ausführungen zum Mißbrauch der Bildungsfrage durch Familien, die ihrem Nachwuchs ihre Sicht und Position aufdrängen, stimme ich zu. Einverstanden bin ich weitgehend auch hinsichtlich des sich aus der kritischen Rückschau ableitenden Mißbrauchs der Vokabel »Bildung«. Auch teile ich Ihre Kritik an jener Naivität oder – mit meinem Begriff formuliert: – Infantilität, die als Naturnähe und Lebensverbundenheit daherkommt. Im von Ihnen vor- und dargestellten Kontext vermag ich Ihrer sprachlichen Analyse von Freiheit zu folgen. Daß bestimmte regelmäßige Gäste bei populären Fernseh-Sendungen (sogenannte »Talkshows«) eine gewisse »Geilheit« auslösen, erfüllt auch mich mit Sorge. Diesem Einverständnis folgt dennoch das Unbehagen: War’s das? Hat Lothar Kittstein damit alles geklärt? Gäbe es auf diese Frage eine bejahende Antwort, bedürfte es keiner erneuten Stellungnahme, die in einem anderen Ansatz wurzelt als Ihrem. Insofern möge unser Disput der Leserschaft dienen, sich durch Aufklärung präziser zu positionieren…

Zunächst ist es naheliegend, daß die von mir klar anders gestellte Grundfrage zu anderen Konsequenzen führen muß. Was mir von großer ethischer Bedeutung erscheint, möchte ich begrifflich verdeutlichen – bekanntlich ist das Spielen mit der Sprache eines meiner Steckenpferde! Aus vielerlei Gründen lehne ich das Wort »Kind« ab, welches für mein Dafürhalten für eine Stigmatisierung steht. Wo es nicht um »Kindheit« geht, kann es auch keine Erziehungsrolle geben: weder subtil noch offenbar, weder den Eltern noch »Vater Staat« überantwortet… Der Mensch »ist« bereits Mensch und bleibt es jederzeit und überall, hat also nicht erst zu werden, nicht so oder anders zu werden; folglich gebührt diesem Wesen all das, was den Menschen kennzeichnet: zuvörderst muß ihm mit einem bedingungslosen und unbedingten Respekt vor seiner Würde, seiner Selbstbestimmtheit und seiner Kompetenz begegnet werden – selbstverständlich! Welch fundamentaler Unterschied zu den Vorzeichen unserer zivilisatorischen Ideologien, welche, einer Logik von Wert und Verwertbarkeit anhaftend, die Menschen entsprechend den Kategorien von Arbeitsleistung und Geld und Konsum usw. einteilt: vom Alter (bzw. der Jugend) über das Frau/Mann-Sein hin zum »Fremden«, »Ausländer« usw. In eine Lebensform, welche »enkeltauglich« sein möchte, passen die subtil wirkenden zivilisatorischen »Normen der Normalität«, darunter das zivilisationstypische Menschenbild der »Kindheit«, nicht mehr; dort, wo ehedem ein zermürbender Krieg von Erziehung oder zwangsweiser Anpassung (»Sozialisation«) oder Beschulung herrschte, ist es für immer mehr Menschen wichtig und selbstverständlich geworden, daß sie ihrem Nachwuchs mit einem Vertrauen in die Lebensdynamik als Vorzeichen eines gedeihlichen Aufwachsens und Lebens begegnen. Obschon das in Frage- und Zur-Disposition- Stellen der »Kindheit« ein wesentlicher Stein im großen Bogen der Zivilisationskritik ist, stößt meine Position, etwa unter dem Titel »Sind ›Kinder‹ wirklich auch Menschen?«, in vielen Kreisen gewiß nicht auf ungeteilte, begeisterte Zustimmung, im Gegenteil!

Der erste Punkt, um den es allemal mir geht, bezieht sich also auf den Wandel rund um ein Wesen, das ich als Subjekt bezeichne: Auf diesen von Ihnen sehr zutreffend kritisch analysierten Begriff komme ich nochmals zu sprechen.

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Zweitens: Ihren Versuch einer kritischen Darstellung von »frei« und »Freiheit« sowie deren Mißbrauch kann ich zwar gut nachvollziehen, doch habe ich hierzu eine andere Position, weil für mich die Nagelprobe der in Anspruch genommenen Freiheit nicht deren positiver Aspekt ist, sondern deren Verweigerung. Zur Verdeutlichung: Für mein Verständnis ist frei, wer »nein!« sagen kann und dessen »Nein!« auch ge- und erhört wird. Konkret: Es ist für mich ein großer Unterschied, ob ein betroffener junger Mensch seinen erzieherisch überbehütenden Eltern ausgeliefert ist, die ihm wohlmeinend etwas aufdrücken wollen; oder was konkret und abstrakt geschieht, wenn er sich dieser für ihn unhaltbaren Situation durch Verweigerung zu entziehen versucht – was sich nicht nur auf die Schule beziehen muß, sondern auch auf andere Bereiche des Lebens. Wird dieses »Nein!« respektiert?

In diesem Zusammenhang verweise ich auf den sehr lesenswerten Beitrag von Franziska Klinkigt, worin diese Frage in einem nicht-unmittelbar schulischen Kontext thematisiert wird.

Angenommen, ein Mensch, laut deutscher Gesetzgebung der Schulpflicht unterworfen, würde sich – entweder von Anfang an oder im Laufe der acht- bis zehnjährigen »Schulpflichtzeit« – seiner Beschulung entziehen wollen; je nach Situation artikuliert er sein Unbehagen durch klare Aussagen oder durch Verhaltensweisen, die als nicht wesensgemäß, nicht gesund zu bezeichnen sind (bitte unterstellen Sie mir an dieser Stelle keine Natur-Romantik, um die es mir wahrlich nicht geht!). Welche Maßnahmen werden nun ergriffen? Versprechen von (mehr) Belohnung bei Wohlverhalten? Aushandeln eines Kompromisses, womöglich, weil angeblich die »Zukunft« gefährdet sei? Gespräch mit Lehrerschaft? Medikamentöse Behandlung, etwa mit »Ritalin« und Co? Nachhilfeunterricht? Schulwechsel? Gründung einer »Elternschulinitiative«? Drohungen? Körperliche Gewalt (»Züchtigung«)? Ausgehverbot? Entzug von Fernsehen, Computer oder Mobiltelefon? Oder Versteckspiel in Deutschland, hoffend, von wohlmeinenden Nachbarn nicht angezeigt zu werden – bis hin zum Auswandern?

Diesem ersten Akt folgt alsbald der zweite in Gestalt der offiziellen Schritte der Staatsgewalt: etwa gerichtliche Maßnahmen. Mögen die vom Amtsgericht verhängten ersten Sozialstunden als noch verhältnismäßig harmlos wahrgenommen worden sein und die morgendliche polizeiliche Zuführung zur Schule noch als »pubertäre Mutprobe« und Gaudi interpretiert werden, so hört der »Spaß« wohl vollends bei Jugendgefängnisstrafen auf 1 , zu denen deutsche Gerichte sich berufen fühlen: Um diesen renitenten Menschen zur Einsicht zu bewegen, daß er sich endlich wohlerzogen einfügen soll, werden ihm nicht nur die Zwangseinweisung in ein Schulinternat oder in ein Erziehungsheim angedroht, sondern ihm und seiner Familie ein Entzug des elterlichen Sorgerechts… Gewiß werden wir uns darin einig sein, daß solche und andere Maßnahmen, die nur dort greifen können, wo einem Menschen auf Grund seines Alters – nein: seines Jungseins! – das Recht abgesprochen wird, sich zu verweigern, also nein zu sagen, nicht nur unsinnig und kontraproduktiv sind, sondern vor allem unvereinbar mit Geist und Buchstaben unserer Verfassung. Hinsichtlich der Grundidee der Freiheit als Ausdruck des demokratischen Selbstverständnisses möge bedacht werden, daß die in unserem Grundgesetz verankerten Grund- und Menschenrechte nicht als positives Programm, sozusagen als Wegweiser einer zur gestaltenden Gegenwart und Zukunft formuliert wurden; sondern zur Verankerung eines Abwehrrechts des Menschen gegenüber einer (Staats-)Gewalt. Insofern sind auch da programmatisch Würde und Selbstbestimmtheit des Menschen keine nur naturromantischen Hoffnungen, sondern klare Qualitäten, die jedwede staatliche Obrigkeit zwingend zu beachten hat – hätte, sage ich angesichts der deprimierenden Realitäten lieber mal!

Hier höre ich den üblichen Einwand, mit einem »Nein!« sei noch kein »Ja!« formuliert, noch kein positiver, konstruktiver Weg aufgezeigt, noch nicht dargestellt, was dann geschieht. So berechtigt dieser Einwand erscheint, so halte ich ihn dennoch für verfehlt. Weder Sie noch ich noch sonst jemand sollte sich befugt und berechtigt fühlen zu bestimmen, was für andere wann, wo, in welcher Weise, mit wem, wodurch, weshalb wichtig und relevant sein kann – oder eben nicht. Zerbrechen wir uns bitte nicht den Kopf darüber, was kreative Menschen vermögen, wenn ihnen diese Eigenschaft nicht genommen wird. Würde der Versuch, vorzuschreiben, wo’s langzugehen habe, nicht die Gefahr einer erneuten sozialfaschistoiden Mentalität bergen, die wir beide gewiß nicht anstreben?

Zur Verdeutlichung möchte ich folgendes Beispiel anführen – und dies tue ich sicherlich nicht aus einer romantischen Vorstellung von Natürlichkeit und Ursprünglichkeit. Als Zeichen des zivilisatorischen Fortschritts wurde den werdenden Müttern propagandistisch eingebleut, das Wohle ihres Nachwuchses erfordere eine Entbindung im Kreißsaal. Dann aber verweigerten sich einige Schwangere der oft fabrikmäßigen Abfertigung im Krankenhaus und suchten nach anderen Wegen der Geburt, für die es wahrlich gute Gründe gibt: Darunter insbesondere die essentielle Frage, ob dem Neugeborenen nicht selbstverständlich das Recht zugestanden werden müsse, seinen Weg vom schützenden mütterlichen Schoß in die Welt nach eigenen Vorgaben zu organisieren; danach kommen die tausenderlei eine Sicherheit vorgaukelnden Maßnahmen einschließlich Impfungen, regelmäßige Untersuchungen oder Hort, Kita, Kiga…, deren Sinn es ist, das der Geburt folgende Leben zu optimieren, zu »meliorieren«. Dies alles abzulehnen, ist kein Plädoyer für Vernachlässigung, für Mißachtung, denn es ist im Gegenteil ganz klar, was die Liebe des Babys bedingt: ihm optimale Bedingungen und ein gesundes Umfeld zu »schenken«.

Was hat dies nun mit Freiheit zu tun? Etwas, das meines Erachtens weit über die bloße Frage einer gewaltlosen Hausgeburt oder einer Schulverweigerung hinausgeht: Freiheit bezieht sich auf eine Lebensqualität, die ich gern mit dem Begriff Vertrauen umschreiben würde: Vertrauen in das Kreative und Offene des Lebens und in die den Menschen kennzeichnenden Eigenschaften, zuvörderst der Kompetenz. Ich glaube nicht, daß das Motto von Erich Kästner: »Leben ist immer auch lebensgefährlich!« als Alibi oder Rechtfertigung für Mißtrauen formuliert wurde, auf dessen Grundlage die Ziele und Wege und Mittel der Existenz vorgegeben, diktiert würden. Dies gilt logischerweise auch für die Unmöglichkeit, aus dem Vertrauen heraus einem Menschen einen (Bildungs-)Weg vorzuschreiben. In Erweiterung heißt dies: Zwar besteht die uns, Älteren, aufgetragene Herausforderung vor allem darin, für die besten Umstände zu sorgen, doch wäre der Begriff Freiheit sinnlos, wenn dem Betroffenen nicht die Möglichkeit geboten wäre und bliebe, sich hierzu positiv oder negativ zu positionieren. Dies scheint mir die »Nagelprobe« der an das Vertrauen gebundenen Freiheit, die, wie ich hoffe, in diesem Zusammenhang einen anderen, erträglicheren, für uns beide akzeptablen Sinn erhält, oder?

Hieraus resultiert für mich eine dreifache Deutung des Freiseins:

  • Ich weiß mich frei vom Druck, den etwa andere oder Behörden usw. auf mich ausüben könnten (frei von…).
  • Ich bin prospektiv frei und darf meinen aktiv-kreativen Fähigkeiten vertrauen (frei für…).
  • Und (mir das Wichtigste): Ich kann so frei sein, mir die Freiheit zu nehmen, nein zu sagen (frei zum »Nein!«).

* * *

Nun möchte ich verdeutlichen, was es aus meiner Sicht mit dem Subjekt auf sich hat. Ihrer sehr treffenden Beschreibung eines Gegensatzes kann ich gut zustimmen: Einerseits wird in manchen Kreisen einem oft fast narzißtischen »Selbst«, einer übersteigert selbstherrlichen, unabhängigen, von der (Mit-)Welt sozusagen getrennten »Ichheit« gehuldigt – diese Neigung sehe ich mit größter Sorge! Andererseits sehe ich durchaus, daß dem Wort Subjekt die Idee des Unterworfen-Seins innewohnt. Allein ich deute »Subjekt« anders: Gewiß schwingt eine Abhängigkeit mit, weil wir – wie bereits gesagt – in einen soziokulturellen und ökologischen Kontext hinein geboren und darin eingebettet sind, also dem Umfeld unterworfen, gar ausgeliefert sind; doch ist es just die Gabe der menschlichen Gattung, daß ein jeder Mensch damit aktiv und kreativ umgehen kann – insofern ihm sein »Genie« nicht mit aller erzieherischen Gewalt ausgetrieben worden ist.

Meiner Deutung des Begriffs Subjekt mag viel Optimismus zugrundeliegen, hoffentlich aber kein Realitätsverlust, wenn ich hervorhebe, ein jeder Menschen sei immer Subjekt und bleibe es lebenslang, selbst wenn er die Rolle und Funktion eines Objekts über- und einnimmt. Da für mich Subjekt und Objekt keine Antagonismen wie Tag und Nacht oder schwarz und weiß sind, lasse ich mich nicht von der nach außen hin sogar sehr erfolgreich gespielten zweiten Rolle als Objekt verleiten oder verführen; eher frage ich kritisch, ob so manch krankhafte, als Neurosen bezeichnete Verhaltensweise (etwa das willfährig und stolz in sein Schicksal Sich-Fügen oder aber der Sturz in oft wahnhafte infantile Fluchtgedanken!) keine im Kern gesunde Reaktion auf die erzieherische Abrichtung sind. Markantes Beispiel: Aus der scheinbaren Abhängigkeit des Babys von der liebevoll nährenden Mutterbrust könnte geschlußfolgert werden, es sei ein Objekt, also ein Ding, eine Sache; die sozialpsychologischen Forschungen der letzten Jahrzehnte haben jedoch gerade betont, daß in eben dieser Interaktion er durchaus Subjekt ist. Wer dies erkennt und anerkennt kommt doch nicht umhin, seine Kompetenz zu bestätigen statt ihn erzieherisch zu demoralisieren.

Aus dem postulierten Subjekt-Status ergibt sich für mich die Notwendigkeit eines Begriffs, der nicht in die Gefahr gerät, an eine schulische Maßnahme, Veranstaltung oder Absicht zu erinnern. Was typisiert die Institution Schule besser als der Schüler, dessen Los und Schicksal es ist, zu lernen? Sollte Lernen nunmal eine schulisch verseuchte Vokabel sein, kann es nicht genügen, dem Lernen die Silbe »Frei« voranzustellen! Auf die Gefahr, mich nun zu wiederholen, möchte ich nun erneut die Einwände darstellen, die ich aus drei sehr unterschiedlichen Gründen gegen diesen m.E. problematischen Begriff »Freilerner« hege:

  • Erstens: Weckt dieser Begriff bei vielen Menschen nicht den Eindruck einer neuen Sekte, deren Mitglieder sozusagen in Konkurrenz treten zu den religiösen Familien, die aus der Ablehnung der bibelwidrigen Schule ihren Nachwuchs zuhause unterrichten? Bei Behörden, insbesondere bei Gericht, so kann ich aus leidiger Erfahrung berichten, sorgt diese Haltung nicht für Interesse und Verständnis, sondern im Gegenteil dafür, daß diese unterstellen, die sich als »Freilerner« begreifende Familie würde dem staatlichen Schulmonopol trotzen, weshalb sie der hier lauernden Gefahr der »Bildung einer Parallelgesellschaft« mit allen Mitteln entgegenwirken müßten. Welch ein fundamentaler Gegensatz ist es hierzu, ob ein junger Mensch sich seiner zwangsweise Beschulung verweigert! Kann nun Mutter/Vater, die dem verfassungsmäßigen Respekt vor der Würde des jungen Menschen und dem gesetzlichen Verbot jedweder erzieherischen Gewalt entsprechen, vorgeworfen werden, nicht das Erforderliche zur Durchsetzung der »Schulpflicht« getan zu haben?
  • Zweitens scheint dieser Begriff tatsächlich der von Ihnen so treffend beschriebenen (oder karikierten?) »identitären Gruppenbildung« Vorschub zu leisten – mit allen Merkmalen von »Innen« und »Außen«, von richtig und falsch…
  • Da ich drittens das Wort »Lernen« als schultypische Enteignung und Verfremdung betrachte, muß ich auf andere, weniger schulisch-verseuchte oder belastete Wörter zurückgreifen. (Insofern mag es ja zur Ironie der Angelegenheit beitragen, daß ich diese Reflektion für ein Medium verfasse, das – leider! – eben den Namen »die freilerner« trägt…) Mein Vorschlag war eben: frei sich bilden.

Bevor ich darauf eingehe, was dieser Begriff auf sich hat, möchte ich klarstellen, daß ich Ihre Kritik an oder Skepsis gegenüber dem Begriff »Freilerner« verstehen und teilen kann; umso mehr bedaure ich, wie leichtfertig Sie sozusagen alles »in einen großen Topf« werfen! Nein, nicht jede (radikale) Schulverweigerung bedeutet automatisch eine als »Freilerner« umschriebene »häusliche Beschulung«; und auch kein »frei sich Bilden«! Selbst wenn die von mir favorisierte und verbreitete Begrifflichkeit für Ihr Verständnis nicht ideal sein sollte, so stellt sie den Versuch dar, an einem für jeden Menschen spontan nachvollziehbaren Prozeß eine ethische Haltung zum Ausdruck zu bringen, die ich kategoriell nochmals erläutern möchte.

  • Zunächst sehe ich die verbale Form »Bilden« als Prozeß – im Gegensatz zur möglicherweise versachlichten, dinghaften, käuflichen, dadurch »verknappbaren« und an Herrschaft gebundenen Bildung (etwa der sog. Allgemeinbildung).
  • Dann steht das rückbezügliche »Sich« für die postulierte Kompetenz des Subjekts: Niemand bildet einen anderen, niemand wird – im Sinne eines zu erziehenden Objekts – gebildet; Sich-Bilden würdigt den Menschen und das, was er tut, denn wesentlich ist die Tat, nicht das Resul-Tat.
  • Die Qualität dieses Prozesses wiederum wird mit dem vorangehenden »Frei« beschrieben: Nicht das, was ich erfahre, ist frei im Sinne von beliebig, zweideutig, unklar, denn selbstverständlich gibt es einen soziokulturellen und ökologischen Kontext, in den jeder Mensch eingebettet ist; nur: frei ist der stattfindende Prozeß, weil der Mensch selbstbestimmt ist. Daher: Die Freiheit kann sich nicht auf die Inhalte meines Interesses, meiner Entdeckungen beziehen, denn diese sind nunmal nicht frei. Zwar mag ich so frei sein, diesen Text zu schreiben oder nicht; doch die Sprache, derer ich mich hierfür bediene, ist nicht frei, nicht beliebig – und jeder Begriff ist bedeutungsschwanger und entzieht sich meiner Interpretationsmacht…

Vielleicht verdeutlicht eine analoge Sprachwendung das Gemeinte: Würden wir von »frei sich ernähren« sprechen, so wäre dies kein Anlaß zum Mißverständnis, jemand müsse unentwegt alles in sich hineinwürgen und seines unersättlichen Hungers wegen gar Mundraub betreiben; eine gesunde Haltung vorausgesetzt (die in Deutschland nicht evident ist: Wie viele Menschen hierzulande sind zu dick!), stünde Freiheit für das grundlegende Vertrauen, der Organismus werde zumeist anzeigen und mitteilen, was er benötigt: weder Mangel noch Bulimie! Daß auch der jüngste Mensch sich mitteilen kann, wann er welches Bedürfnis befriedigen möchte, wenn ihm Vertrauen geschenkt wird, hat »windelfrei« gezeigt. Was einst als undenkbar galt: selbst dieser Aspekt der »Freiheit« mündet nicht in Chaos, Tyrannei oder Gewalt…

Dieses Bild des Frei sich Ernährens möchte ich gern auf anderes ausweiten und zwei Anmerkungen anbringen. Sich dem Ungesunden der Essens-Normalität von zumeist ziemlich entwerteten, fabrikmäßig verarbeiteten Lebensmitteln zu verweigern, bedingt nicht zwangsläufig eine Zugehörigkeit zu einer sektenähnlichen Gruppe von »Öko-Freaks«, »Müsli-Fressern« oder Veganern… Es bedeutet aber, sicherlich, ein Achten auf die eigene Lebensart und Ernährung – was ich gern mit dem im ursprünglichen Sinne des Wortes »Hygiene« umschreiben möchte. Angesichts der Ernährungs-Normen der Masse mag deren Ablehnung für die Besonderheit des »sich-seiner-bewußt-Seins« sorgen – folgt hieraus eine dramatische Vereinsamung? Muß wer sich anders ernährt all diese Lebensmittel selbst anbauen und pflegen und ernten? Will heißen: Bei allem »devianten Ernährungsverhalten« ist der Mensch in seinen Kontext eingebettet; sein Selbst (»frei sich…«) ist nicht losgelöst vom Du, vom Wir: weder überheblich, besserwisserisch noch unterwürfig, mit schlechtem Gewissen, krank. Im Grunde ist das hiermit Dargestellte ein Bild der menschheitsgeschichtlichen Prozesse der letzten Jahrhunderte: ab von den zivilisatorischen Versuchen der Vermassung des Menschen, hin zu einem Respekt vor seinem Wesen. Dieser Wandel wird erst gelingen, wenn Menschen von Anfang an diesen Respekt erfahren und leben – die staatlich gelenkte Zwangsschule ist ein letzter Rest einer obsoleten Mentalität! Sollte frei sich ernähren als Würdigung des Menschen und seines ökologischen Eingebettet-Seins gelten, so dürfte analog frei sich bilden als Würdigung seiner soziokulturellen Kompetenzen selbstverständlich sein…

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Am Schluß Ihres Beitrags greifen Sie anhand des Zitats von Josef Kraus zu Thomas Manns Roman »Joseph und seine Brüder« die für mein Dafürhalten zentrale und dramatische Frage des kulturellen Selbstverständnisses auf. Da ich Kunst und Kultur als unverzichtbare Komponenten menschlichen Geisteslebens betrachte, stimmt meine »wertkonservative Seele« der Anmerkung zu. Dennoch weist die konkrete Erfahrung darauf hin, daß niemand durch bloße schulprogrammierte Unterrichtung dazu »verführt« werden kann, sich für Kunst oder Kultur zu begeistern – anders aber, wenn das Entdecken, nach dem jemand »Feuer fängt«, durch einen wirklich begeisterten, guten »Lehrer« geschieht, dem sich zu entziehen schwer fallen sollte… Einerlei ob Walter von der Vogelheide, Friedrich Schiller oder Johann Wolfgang Goethe, Hermann Hesse oder Thomas Mann, Max Frisch oder Juli Zeh; ob Johann Sebastian Bach, Wolfgang A. Mozart, Johannes Brahms, Alban Berg oder Karlheinz Stockhausen; ob Peter Paul Rubens oder Vincent Van Gogh… Kunst und Kultur sind niemals Ergebnisse einer pädagogischen Absicht, eines schulischen Programms; und just jene wohlmeinenden kulturellen Maßnahmen, um angebliche »bildungsferne Schichten« (weil doch besoffene Eltern eh nur besoffene Kinder heranzögen…) an die Kultur zu führen, sind nicht wohltuend, im Gegenteil: Sie zementieren indirekt das schichtenspezifische Stigma! Sollte es um die wesentliche Frage des »kulturellen Kanons« gehen, hat im Mittelpunkt zu stehen, welchen Stellenwert wir konkret, in unserem eigenen Dasein, dem Kulturellen, der Kunst schenken. Menschen öffnen sich selbstverständlich dem, was um sie herum gepflegt wird: ob es die Sprache ihres Umfeldes ist oder anderes. In dem Maße, wie es insbesondere Bücher und Büchereien, es Bühnen und Kinos, es Orte gibt, an denen Menschen frei sich bilden können, wird sich unsere heute ziemlich akulturelle, medienverseuchte, gehetzte Welt verwandeln in eine gedeihliche »Landschaft«, in welcher Menschen selbstverständlich – weil ihrem Selbstverständnis entsprechend – aus der Muße heraus sich aktiv Kunst und Kultur – und vielem mehr! – widmen werden…

Der Artikel ist 2017 in Heft 75 – Sozialisation erschienen.

Lieber Lothar Kittstein, obwohl auch ich seit Jahren bestimmte Forderungen wiederhole, hoffe ich hierbei in meinem Gesicht nicht »etwas seltsam Trauriges, etwas Verlorenes« zu haben, sondern im Gegenteil Freude und Zuversicht auszustrahlen: Worauf weisen die Reaktionen der letzten Monaten hin? Offensichtlich ist inzwischen nicht wenigen Menschen – leider den Medien kaum oder absolut nicht! – klar geworden, daß und weshalb es eben nicht um »Freilerner«, nicht um »häusliche Beschulung«, nicht um »Bildung« und deren Vermittlung gehen kann; daß »Schulverweigerung« kein Ziel ist; und daß Auswanderung keine Lösung darstellt. Stattdessen setzen sie sich nun aktiv und kreativ für das im Grunde naheliegende Recht eines jeden Menschen ein, selbstverständlich frei sich zu bilden. Nach fünf Jahrzehnten des Engagements für einen radikalen Ausbruch aus der institutionalisierten Bevormundung und Enteignung der Beschulung scheint es so, daß diese ethische Haltung, konsequent gedacht, allmählich prospektiv wirkt. Was mich also mit großer Zuversicht trägt und bewegt: zumindest haben sich einige Menschen davon verabschiedet, sich mit einem mehr als problematischen Begriff zu identifizieren, der – darin werden wir beide uns sicherlich einig sein – mehr Mißverständnisse schafft als Klarheit. Um eben jene Klarheit, die anzustreben unser gemeinsames Ansinnen mit diesem Austausch war und ist.


Einen Auflistung der Veranstaltungen von und mit Bertrand Stern gibt es auf seiner Webseite: www.bertrandstern.de/termine. Über die Webseite kann mensch sich auch für seinen kostenfreien unregelmäßig per E-Mail erscheinenden Rundbrief eintragen: www.bertrandstern.de/rundbrief.
Mehr Informationen zum
frei sich bilden gibt es hier: www.frei-sich-bilden.de.


Weitere Beiträge zur Diskussion in der Freilernerzeitschrift:

  1. Lothar Kittstein: Widersprüchliche Freiheit – Überlegungen zur politische Dynamik der Freilernerszene
  2. Bertrand Stern: Den Menschen als Subjekt in den Mittelpunkt aller Betrachtung stellen
  3. Lothar Kittstein: Zur Kritik der Bildungsfreiheit

 

  1.  »Je nach Bundesland sind bis zu 40% der Jugendlichen in den Jugendarrestanstalten nur deshalb dort, weil sie sich weigern, in die Schule zu gehen« Karen Kern, Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Bildung in M. Kern Hg., Bildung versus Schulpflicht, (tologo verlag) Leipzig, 2016, S. 14