Entscheidungskind

Da gibt es diese Geschichten, von denen eigentlich jeder Mensch eine hat, die er sein ganzes Leben lang mit sich herum trägt. Erfahrungen, die man vor vielen langen Jahren gemacht hat, die einen immer wieder beschäftigen, einholen, sich breit machen und sich einem stolz als immer wiederkehrendes Problem vorstellen.

Der Artikel ist 2015 in Heft 66 – Entscheidungen erschienen.

Zum Thema »Entscheidungen« fällt mir deshalb als erstes ein, dass ich doch das Entscheidungskind bin. Eins dieser so häufig gewordenen Scheidungskinder, mit dem Zusatz, dass ich meine Zuhause in wöchentlichem Rhythmus gegeneinander ausgetauscht habe, freiwillig natürlich. Eigentlich war der Wochenrhythmus aber jeder Zeit unterbrechbar und ich durfte mich frei entscheiden, wohin ich zu welcher Zeit gehen und wann ich wo bleiben wollte. Völlige Entscheidungsfreiheit kann man so was nennen. Oder auch maßlose Entscheidungsüberforderung. Und deshalb kam es eines Tages dazu, dass ich anfing der Entscheidung zu entsagen. Noch nicht mal bewusst wahrscheinlich, bin ich oft nach der Schule durch die Stadt gelaufen, ohne ein genaues Ziel zu haben. Geleitet von dem unterbewussten Wissen, das ich mich nicht entscheiden will, in welchem Bett ich heute Nacht schlafe. Wenn ich mir jetzt vorstelle, wie ich damals wohl ausgesehen habe, dann sehe ich ein etwa 15 jähriges Mädchen das alleine durch die Fußgängerzone einer großen Stadt schlendert, vorbei an vielen Leuten, mit einer großen Grübelwolke um ihren Kopf.

Später begann die Zeit der Umfragen, in der ich regelmäßig meine Klassenkameraden darüber interviewte, zu welchem Zuhause ich am Abend zurückkehren sollte. Eine meiner guten Freundinnen, mit der ich oft die große Welt, unsere beiden kleinen Welten, unsere Mitschüler und den Schulkosmos analysierte, war mir dabei eine große Hilfe und immer dazu bereit, mir die Entscheidungsfindung durch Fragen und Analysieren leichter zu machen.

Und dann gab es noch die Entscheidung nach Priorität: »Bei meiner Mama sind mehr frische Unterhosen, bei meinem Papa dafür ein schönes T-Shirt, was ich morgen anziehen könnte« bzw. »Bei Mama gibt es wahrscheinlich gekochtes Mittagessen zusammen, bei Papa dafür vielleicht einen Ausflug zum See«.   Glücklich hat mich das alles nicht gemacht und ich kann aus Erfahrung sagen: Etwas entscheiden zu müssen, was man einfach nicht entscheiden kann, kann einem richtig weh tun. Irgendwo in der Bauchgegend zieht es einen auseinander und manchmal muss man viel Flickarbeit leisten.

Das ist die Geschichte, die ich mit mir trage und einer der ersten Erfahrungsschätze, die ich zu schwierigen Entscheidungen gesammelt habe. Und obwohl meine Schulzeit und damit auch die Zeit der wechselnden Zuhause langsam zu Ende geht, ist das unfassbare ja, dass die Entscheidungen, die man treffen muss, niemals weniger werden. Im Gegenteil habe ich das Gefühl, ein paar sehr wichtige Entscheidungen direkt vor meinen Füßen liegen zu haben und einen kleinen Affentanz zu veranstalten, um ja nicht noch einen Schritt näher darauf zugehen zu müssen. Schon unzählige Male ist mein inneres Selbst im Kreis gerannt, hat sich die Ohren zu gehalten und geschrien »Ich kann mich einfach nicht entscheiden!« Doch bevor ich die Schwierigkeit der Entscheidungen, die ich zu fällen habe verfluche, erinnere ich mich meistens daran, dass ich eigentlich froh darüber bin, das Recht auf meine eigenen Entscheidungen zu haben, wie kompliziert sie auch manchmal sein mögen.

Kira Wybierek

Kira Wybierek ist Mitorganisatorin des Schulfrei-Festivals und schreibt immer wieder Beiträge für die Freilernerzeitschrift. Auf ihrem Blog www.mein-neuland.blogspot.de hat sie noch viele weitere Texte veröffentlicht.

Entscheidungskind