Abitur – ein bewusstes und freiwilliges Unterfangen

Ich bin 19, bald 20, lebe in Frankfurt am Main und habe gerade mein Abitur bestanden. Ein bewusstes und freiwilliges Unterfangen, auf einem nicht immer geradlinigen Weg. Ich möchte über diesen Weg berichten, über größere und kleinere Hürden in fünfeinhalb Jahren Schullaufbahn, über die Entscheidung für das Abitur, die immer wieder getroffen werden musste.

Erschienen 2014 in Heft Nr. 64 – Freiräume.

Doch von Anfang an: Im Einschulungsalter beschlossen meine Eltern mich nicht auf eine der nahegelegenen Grundschulen zu schicken, sondern mir eine Unschooling-Kindheit und damit ein Leben und aufwachsen ohne Zwänge und sozialen Druck zu ermöglichen. Doch dies nur zur Erläuterung; diese Zeit ist ein anderes Kapitel und gehört nicht in einen Artikel über mein Zeugnis der Reife. Ich habe immer wieder das Gefühl, ein Doppelleben zu führen zwischen einer ganz normalen Schülerin und meiner Freilernerinnenexistens. Gerade über diesen Zwiespalt möchte ich erzählen und wie es immer mal wieder zu Streitigkeiten zwischen diesen beiden Ichs gekommen ist.

Mit 14 wurde ich in die 8. Klasse einer ganz normalen staatlichen integrierten Gesamtschule »eingeschult«, teils wegen dem Schulamt, welches auf uns aufmerksam geworden war, teils aus eigener Neugier und Interesse heraus (»wenn da alle hingehen, kann ich das ja auch mal…«).

Zwar hatte ich mich im Geiste immer als Musterschülerin vorgestellt (warum weiß ich bis heute nicht so genau), doch das vorrangige Ziel war damals der (einfache) Hauptschulabschluss, um überhaupt einen Abschluss und die Vollzeitschulpflicht erfüllt zu haben (in Hessen ist dies nach erfolgreicher Beendigung der 9. Klasse der Fall).

Trotz anfänglicher Schwierigkeiten mit dem Schulstoff (vor allem Schreiben, Englisch und Mathe fielen mir anfangs schwer) war relativ bald klar, dass ich auch den Realschulabschluss problemlos schaffen würde. Nach der 9. Klasse hätte ich aufhören können (die zwei Jahre Berufsschulpflicht werden nicht streng auf ihre Einhaltung überprüft), doch ich beschloss weiterzumachen, es ergab sich einfach so. Nach der 10. Klasse erlangte ich die Versetzung in die 11. Klasse und besuchte für drei weitere Jahre ein Oberstufengymnasium, um mein Abitur zu machen. Während dieser Zeit habe ich parallel zur Schule meinen Highschoolabschluss über die Clonlaraschool Deutschland gemacht, indem ich mir den Schulstoff und weitere Aktivitäten, Hobbys etc. dafür anrechnen lies. Ich arbeitete mich von Abschlussprognose zu Abschlussprognose und sammelte Schulabschlüsse (ein bisweilen zeitaufwendiges Hobby…).

Doch nun ein wenig mehr zu meiner Zeit an der Oberstufe: Den Übergang in die 11. Klasse schaffte ich mit leichtem Notenabfall inhaltlich problemlos. Etwas anders sah es da schon in der 12. Klasse aus. Ich selbst bin ein sehr ehrgeiziger Mensch und mir waren und sind gute Noten sehr, sehr wichtig. Meinen Realschulabschluss hatte ich mit einem Durchschnitt von 1,4 bestanden und mir dieses Ziel auch für mein Abitur gesteckt. Auch wenn nie ernsthaft infrage stand, dass ich dieses bestehen werde, geriet mein sehr hochtrabendes Ziel ins Wanken und ich lief Gefahr vor allem meine eigenen Erwartungen an mich selbst nicht zu erfüllen. In jenem Schuljahr traten verschiedene Probleme auf, meine Zensuren wurden schlechter. Zum einen wuchsen die inhaltlichen Anforderungen, ich musste mich auf viele neue Lehrer einstellen und mit 39 Wochenstunden und zwei bis drei Stunden Hausaufgaben pro Tag zusätzlich zum Ganztagsunterricht hatte ich alle Hände voll zu tun. (Zur Erklärung: ich war auf einer ganz normalen Oberstufe und diese Anforderungen sind Standard, wurden allerdings durch meine Leistungskurswahl, Kunst und Chemie, zusätzlich negativ beeinflusst). Ein anderer Punkt war, dass ich vier Wochen aus Krankheitsgründen gefehlt, 6 Klausuren und größere Mengen an Stoff verpasst habe. Allein durch die Fehlzeiten fallen die mündlichen Leistungen automatisch ab.

Auf einem ganz anderen Blatt steht, dass ich mich zu jener Zeit (besser gesagt seit Mitte der 11. Klasse, also mit 17) sehr wohl in der Freilernerszene gefühlt habe (was bis heute so geblieben ist), ein Gefühl des »Hingehörens«, welches mir in Gruppenzusammenhängen bis dahin neu war. Ich versuchte einen Identitätsspagat zu leben zwischen einer braven Schülerin, die gute Noten hat, bei den Lehrern beliebt ist und recht bürgerliche Hobbys wie Ballett und Klavier pflegt (diesen Bild habe ich in der Oberstufe bis zum Schluss sehr erfolgreich aufrechterhalten). Auf der anderen Seite stand ein junger – freiheitssuchender Mensch mit dem pubertären Wusch zu rebellieren. Ich identifizierte mich immer mehr als Freilernerin, begann mich mehr bei Septré zu engagieren und bei der Organisation des Schulfrei-Festivals zu helfen. Ich wollte voll und ganz dazugehören und fand es einfach cool die Schule abzubrechen. Erwartungsgemäß hatte ich deshalb nach jedem Freilernertreffen mit Motivationsschwund zu kämpfen. Die Art zu lernen, wie es in der Schule der Fall ist und das »pseudosoziale System« wurden mir zu wider. Zwischen dem Wunsch, das Abitur zu bestehen und Systemablehnung stand ich am Ende der 12. Klasse vor der Frage: Aufhören, weitermachen oder wiederholen?

Ich entschied mich fürs weitermachen und dafür, weniger Zeit und Energie in »Ablehnung« zu investieren. Von dem Gedanken an einen »1, – Schnitt« hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt bereits verabschiedet. In der 13. Klasse ging es merklich bergauf, auch aufgrund der Tatsache, dass ich in meinen »Problemfächern«, Chemie und Spanisch und teilweise auch in Englisch, Nachhilfe nahm. Diese Zeit war mit sehr viel Stress und Arbeit verbunden, immer wieder motivieren und an dem riesen Berg an »abirelevantem Stoff« zeitweise verzweifeln, immer wieder die Frage: Wie lernt bzw. wiederholt man so viel Wissen in möglichst kurzer Zeit, ohne dass die Hälfte wieder herausfällt? Und schlussendlich die Erkenntnis, dass es schlicht unmöglich ist, sich alles lückenlos anzueignen, was man eigentlich beherrschen, verstehen und behalten sollte. Aber alles im Rahmen dessen, was alle anderen Abiturientinnen und Abiturienten in dieser Zeit auch durchmachen mussten, vielleicht sogar weniger, da ich nie wirklich um meinen Abschluss bangen musste.

Alle (oder zumindest die meisten) Prüfungen bestand ich zu meiner vollen Zufriedenheit und erlangte im Abitur einen Durchschnitt von 1,9, ein für mein Empfinden überraschend gutes Ergebnis, auch wenn das für die Menschen in meiner Umgebung von vorneherein klar war. Mit diesem Ergebnis bin ich rundum zufrieden, blicken auf eine durchaus spannende Zeit zurück, aber auch froh, dass alles vorbei ist.

Immer wieder frage ich mich, ob ich das alles eigentlich verdient habe. Ich habe immer das Gefühlt gehabt, dass mir (trotz gewisser Schwierigkeiten) alles irgendwie zufiel. Meine Eltern sind beide Akademiker und haben mich immer sehr unterstützt, sowohl inhaltlich als auch moralisch und konnten sich meine Nachhilfe leisten. Gerade in der 13. Klasse hatte ich deshalb ein ziemlich schlechtes Gewissen und habe dies zum Teil auch noch heute. Wie viele junge Menschen würden vielleicht jetzt einen Abschluss haben, der ihren Wünschen entspricht, wenn sie die gleichen Voraussetzungen gehabt hätten, wie ich?

Auch die Frage nach dem »Warum?« beschäftigt mich: Nach der 10. Klasse gab es mehrere Gründe, zum einen haben meine Eltern sich immer gewünscht, dass ich Abitur mache, um später »alle Möglichkeiten offen zu haben«, zum anderen hat es sich nach meinem guten Realschulabschluss einfach angeboten und ich hatte und habe die Idee irgendwann zu studieren. Der Besuch der Oberstufe erschien mir hierfür schlicht der einfachste Weg, weswegen ich auch von einem externen Abschluss Abstand genommen habe. Eine gewisse Rolle spielte auch die merkwürdige Angst, ohne Schule zu vereinsamen, obwohl ich mich widersprüchlicher Weise nie zu einer Klassengemeinschaft zugehörig, in der Oberstufe wenigstens akzeptiert fühlte. Dass ich die Schule eigentlich nie als soziales System angesehen habe (von ein paar wenigen guten Freunden einmal abgesehen), habe ich erst ganz zum Schluss verstanden.

Nun weiß ich zwar immer noch nicht, was ich berufs – und studientechnisch machen will (diese »Unwissenheit« war, wie für viele andere immer wieder ein Grund, weiter zur Schule zu gehen), aber ich will mir mit dieser Entscheidung Zeit lassen, mindestens aber ein Jahr. Ich genieße die Möglichkeit, meine Zeit selbst zu verplanen und nicht zu wissen, was in zwei Monaten sein wird.

Alles in allem bin ich aber sehr froh, diesen Weg gegangen zu sein. Und ich bin außerdem zu der Erkenntnis gelangt, dass jeder nicht nur seinen Bildungsweg, sondern auch seinen Abschluss frei wählen können sollte. Und niemand wirklich die Möglichkeit, vielleicht sogar das Recht hat, diese Entscheidung zu bewerten.

Tabea vom Septré e. V.

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